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EinleitungD

I.Quellencharakteristik

Für das Kabinett Hoegner II, für die Regierungszeit der Viererkoalition, liegen insgesamt 163 Ministerratprotokolle aus dem Zeitraum vom 15. Dezember 1954 bis zum 8. Oktober 1957 vor.1 Im vorliegenden Band für das erste Regierungsjahr 1955 kommen 62 Protokolle zum Abdruck.2

Neben den Protokolltexten enthält der Editionsband auch sieben Zusatzdokumente, die im Zusammenhang mit Kabinettssitzungen entstanden sind: Zunächst und überwiegend handelt sich um die Niederschriften von gemeinsamen Sitzungen des Ministerrats mit Vertretern der Regierungsbezirke, der Bezirkshauptstädte und der jeweiligen ortsansässigen staatlichen Behörden sowie Wirtschafts- und Interessensverbänden.3 Die Regierung Hoegner II setzte in ihrem ersten Regierungsjahr erstmalig die in der Staatskanzlei bereits länger existierende, dann aber in der Praxis nie ausgeführte Idee um, einmal jährlich turnusmäßig in allen bayerischen Bezirksregierungssitzen einen Ministerrat abzuhalten. Erklärtes Ziel war dabei, die Verbundenheit der Staatsregierung insbesondere auch mit den geographisch weit von München entfernten Regierungsbezirken etwa in Franken oder Ostbayern zu demonstrieren, sich vor Ort und unmittelbar über die politische und wirtschaftliche Lage zu informieren sowie generell die Kommunikation zwischen der Landeshauptstadt und der Peripherie zu verbessern und zu pflegen. Auswärtige Ministerratssitzungen fanden 1955 statt am 31. Mai in Würzburg (Protokoll Nr. 31; Dok.-Nr. 1), am 28. Juni in Bayreuth (Protokoll Nr. 36; Dok.-Nr. 2), am 26. Juli in Ansbach (Protokoll Nr. 40; Dok.-Nr. 3), am 18. Oktober in Regensburg (Protokoll Nr. 51; Dok.-Nr. 4 und 5) sowie am 6. Dezember in Augsburg (Protokoll Nr. 59; Dok.-Nr. 7). Im gemeinsamen Teil der auswärtigen Ministerratssitzungen referierten die geladenen Vertreter der Bezirksregierungen, der Kommunen, Wirtschaftsverbände, Gewerkschaften, des Bauernverbandes, oft auch der örtlichen Arbeitsämter in der Regel in knappen Lageberichten über die jeweilige Situation und die spezifischen Herausforderungen in ihren Bezirken- Auch wurde stets die Gelegenheit ergriffen, Forderungen, Wünsche und Gravamina unmittelbar an die Staatsregierung heranzutragen. Das Dokument Nr. 5 vom 18.10.1955 stellt hier eine Besonderheit dar insofern, als es zusätzlich zu der Regensburger Niederschrift der gemeinsamen Sitzung von Regierung und lokalen Vertretern den vollen Wortlaut der Rede des Regensburger Oberbürgermeisters Hans Herrmann wiedergibt.

Als letzes „Sonderprotokoll“ im vorliegenden Band ist – zum zweiten – das Zusatzdokument Nr. 6 anzuführen, die Niederschrift der Sitzung des Ministerrats am 15. November mit Bundesverteidigungsminister Theodor Blank und zahlreichen weiteren Mitarbeitern des am 7. Juni 1955 gegründeten Bundesministeriums für Verteidigung, in der die Staatsregierung von den Bonner Gästen umfassend über die Aufgaben und den Aufbau der künftigen Bundeswehr im Rahmen der NATO informiert wurde.

Nachweislich elf der 62 Kabinettsitzungen wurden als Außerordentlicher Ministerrat abgehalten, die Gesamtzahl der Sondersitzungen beläuft sich jedoch insgesamt auf zwölf: Am 13. September wurde auf Vorschlag des Ministerpräsidenten eine allgemeine poltische Aussprache der Regierungsmitglieder unter Beiziehung der Fraktionsvorsitzenden der Regierungsparteien für den 19. September beschlossen,4 über diese offensichtlich auch abgehaltene Sondersitzung5 konnten jedoch weder ein Protokoll noch sonstige Materialien oder Aufzeichnungen ermittelt werden.

Nachdem die Anzahl von sechs Außerordentlichen Ministerratssitzungen im Jahre 1953 bereits außergewöhnlich hoch gewesen war, im Regierungsjahr 1954 dann nur ein einziger Außerordentlicher Ministerrat abgehalten wurde, ist die Häufigkeit von nunmehr zwölf Sondersitzungen im Regierungsjahr 1955 bemerkenswert. Der hier mitgezählte Ministerrat vom 18. Mai 1955 ist dabei nicht explizit als Sondersitzung ausgewiesen, der Termin an einem Mittwoch, die kurze, nur 45-minütige Dauer der Sitzung sowie der Hinweis darauf, daß diese auf Initiative des Stv. Ministerpräsidenten und Landwirtschaftsministers Joseph Baumgartner einberufen wurde, um nochmals zwei bereits behandelte Bundesratsangelegenheiten zu besprechen, deuten jedoch auf eine außerordentliche Sitzung hin.6

Anberaumt wurden die Sondersitzungen des Kabinetts entweder aufgrund der besonderen Relevanz oder aber der politischen Brisanz einer bestimmten Sachfrage; im ersten Falle waren die Außerordentlichen Ministerratssitzungen auf Vorschlag von Ministerpräsident Hoegner zumeist geplant und im Voraus im Minsterrat angekündigt, im zweiten Falle kam es offensichtlich auch oft zu kurzfristigen Einberufungen. Bewußt angesetzt waren der Außerordentliche Ministerrat vom 17. Januar, in dem der Verkauf der staatlichen Anteile an der Maxhütte in Sulzbach-Rosenberg erörtert wurde. Diese Frage wurde in einer Sondersitzung am 28. März weiter behandelt.7 Am 31. Januar behandelte das Kabinett als einzigen Tagesordnungspunkt die Veräußerung der Bavaria-Filmkunst,8 für den 21. Februar wurde eine Sondersitzung zur Haushaltsaufstellung angesetzt,9 für den 15. März eine Behandlung der Pariser Verträge,10 für den 6. Juni eine Aussprache über die Finanzpolitik des Freistaates, an der auch die Fraktionsvorsitzenden der Koalitionsparteien teilnahmen.11 Am 12. Oktober stand der Nachtragshaushalt 1955 auf der Tagesordnung.12

Aller Wahrscheinlichkeit nach sehr spontan angesetzt wurden der Außerordentliche Ministerrat vom 9. Februar, in dem eine Note der Apostolischen Nuntiatur in Deutschland zum Initiativgesetzentwurf über die Ausbildung für das Lehramt an bayerischen Volksschulen bekanntgegeben wurde,13 ferner auch die Sondersitzung vom 11. März, in der ebenfalls die umstrittene Frage der Lehrerbildung behandelt wurde.14 Weiterhin wohl kurzfristig anberaumt war die Sondersitzung vom 20. Oktober, deren Anlaß der Antrag des Staatsmisteriums für Arbeit und soziale Fürsorgte gewesen war, für den früheren Staatssekretär im Arbeitsministerium, Andras Grieser, ein Staatsbegräbnis anzuordnen.15

Für diese drei Außerordentlichen Ministerratssitzungen, ebenso wie für die mutmaßliche Sondersitzung am 18. Mai, sind in dem einschlägigen Akt StK-MinRProt 26 auch keine Einladungsschreiben enthalten.

Nach wie vor fanden die Ministerratssitzungen im wöchentlichen Turnus zumeist am Dienstagvormittag statt, nach den montäglichen Koordinierungssitzungen für Bundesangelegenheiten in der Staatskanzlei und vor den in der Regel zur Wochenmitte beginnenden Bundesratsberatungen in Bonn. Abweichungen von der Regel waren selten: Die erste Sitzung der neuen Regierung am 15. Dezember 1954 fand an einem Montag statt, weitere Ausnahmen – ebenfalls an einem Montagstermin – waren die Sitzungen am 11. Juli, am 1. August und am 31. Oktober. Die geplanten Außerordentlichen Ministerratssitzungen wurden überwiegend auf einen Montag gelegt, oftmals in die Abendstunden. Am Dienstag, dem 15. März 1955 wurde am Vormittag ein regulärer, am Abend ein Außerordentlicher Ministerrat abgehalten. Nur zweimal gab es zwischen den einzelnen Sitzungen einen 14-tägigen Abstand. Am 12. April, dem Tag nach dem Ostermontag 1955 sowie am 23. August wurde kein Ministerrat angesetzt. Die Dauer der Kabinettssitzungen betrug im Durchschnit zwei bis drei Stunden, die Sondersitzungen waren tendenziell kürzer und dauerten fallweise nur 30 oder 45 Minuten. Einen markanten Sonderfall stellt das Protokoll Nr. 61 vom 19./20. Dezember 1955 dar: Diese Ministerratssitzung begann am Montag, dem 19. Dezember um 20 Uhr, wurde um 22.45 Uhr unterbrochen und am darauffolgenden Dienstag von 8.30 Uhr bis 11.30 Uhr fortgeführt.

Tagungsort des Ministerrats war – abgsehen natürlich von den fünf auswärtigen Ministerratssitzungen – stets der Sitzungssaal der Staatskanzlei in der Münchener Prinzregentenstraße 7, dem früheren preußischen Gesandtschaftsgebäude. Einzig der Ministerrat vom 16. August fand auf Einladung von Ministerpräsident Hoegner an dessen Urlaubsort in Walchensee im „Kurhotel Post“ statt,16 allerdings ist hierzu im entsprechenden Protokoll Nr. 42 vom 16.8.1955 kein Tagungsort vermerkt.

Die Einberufung zum Ministerrat erfolgte durch den Ministerpräsidenten oder den Stellvertretenden Ministerpräsidenten, die Ausfertigung und Unterzeichnung der Einladungen durch den Generalsekretär des Ministerrates oder einen seiner Stellvertreter.17 Wie bereits in den Jahren zuvor zeichnete Ministerialrat Levin Freiherr von Gumppenberg die überwiegende Mehrzahl der Einladungen, sechs Einladungsschreiben tragen die Unterschrift von Regierungsdirektor Hans Kellner von der Staatskanzlei. Die Einladungen zu den Kabinettssitzungen gingen den Regierungsmitgliedern in der Regel vier bis fünf Tage vor dem angesetzten Termin zu. Nur zu einem regulären Ministerrat, der ersten Sitzung des neuen Kabinetts am 15. Dezember 1954, existiert keine Einladung. Anders sieht es bei den Sondersitzungen des Kabinetts aus: Zu sechs der elf dokumentierten Außerordentlichen Ministerratssitzungen finden sich keine Einladungsschreiben; im einzelnen handelt es sich um die Sitzungen vom 17. Januar, 9. Februar, 11. März, 18. Mai, 12. Oktober und vom 20. Oktober.

Den Einladungen waren stets vorläufige Tagesordnungen beigefügt, die sich zumeist aber nur partiell mit der tatsächlich im Kabinett verhandelten Agenda deckten, diese war in aller Regel erheblich umfangreicher. Wahrscheinlich wurden den Kabinettsmitgliedern auch im Regierungsjahr 1955 weiterhin keine Vorlagen zur Sitzungsvorbereitung übersandt. Es finden sich zwar in der Protokollserie im Nachlaß Hoegner im Institut für Zeitgeschichte, die im übrigen auch die Einladungen zu den Ministerratssitzungen enthält, zu einer Reihe von Einladungsschreiben Vormerkungen, Notizen oder Zusatzmaterialien zu den angekündigten Kabinettssitzungen, jedoch in der Regel sämtlich undatiert und ungezeichnet. Da das Layout und das Schriftbild des Typoskripts dieser Vormerkungen genau den Ausfertigungen der Protokolleniederschriften entspricht, ist davon auszugehen, daß diese Schriftsätze in der Staatskanzlei für den Ministerpräsidenten, möglicherweise auch für den stellvertretenden Ministerpräsidenten erstellt wurden.18 Diese Vormerkungen finden sich für die Regierungsjahre 1955 und 1956 ausschließlich im Nachlaß Hoegner, die Recherche in anderen Archivbeständen blieb ergebnislos. Erst ab März des Regierungsjahres 1957 finden sich zu den Einladungsschreiben im Band StK-MinRProt 27 dann reglmäßig umfangreiche Vormerkungen, die den Einladungsschreiben beigeordnet sind. Punktuell scheinen auch interne Vormerkungen aus anderen Ressorts Eingang in die Protokollüberlieferung im Nachlaß Hoegner gefunden zu haben: Etwa ein Vermerk aus dem Staatsministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten für Landwirtschaftsminister Baumgartner und Staatssekretär Simmel vom 24.1.1955 für den Ministerrat vom 25.1.1955.19

Mit dem Antritt der neuen Koalitionsregierung nahm die regelmäßige Anwesenheit der Regierungsmitglieder in den Ministerratssitzungen im Vergleich zu den Vorjahren deutlich zu. War das Kabinett im Regierungsjahr nur ein einziges Mal vollständig versammelt, so nahmen im Jahre 1955 in 14 der insgesamt 62 Ministerräte alle Staatsminister und Staatssekretäre teil. Stets anwesend war Ministerpräsident Hoegner, der nur zu zwei Gelegenheiten den Ministerrat verließ und den Vorsitz an den stellvertretenden Ministerpräsidenten Baumgartner übergab: Im Ministerrat vom 26. April mußte Wilhelm Hoegner nach rund einer Stunde Sitzungszeit „wegen dringlicher Landtagsverhandlungen“ die Staatskanzlei verlassen. Die genaue An- und Abwesenheit des Ministerpräsidenten geht aus dem Protokoll Nr. 25 vom 26.4.1955 jedoch nicht hervor – unter dem dortigen TOP X tritt Hoegner wieder als Sprecher in Erscheinung, unter TOP XII wird erneut von seiner Abwesenheit gesprochen, unter TOP XXIII ergreift der Ministerpräsident wieder das Wort. Weiterhin wurde auch der Ministerrat vom 13. Dezember 1955 teilweise ohne den Regierungschef abgehalten; Hoegner verließ die Sitzung ohne protokollierte Angabe von Gründen. Neben dem Ministerpräsidenten war ebenfalls durchgehend anwesend Innenminister Geislhöringer, der nur im Ministerrat vom 11. Juli die Sitzung vorzeitig verlassen mußte.

Einen weiteren, ähnlich gelagerten Sonderfall stellt das Protokoll Nr. 33 vom 7. Juni 1955 dar: Kultusminister Rucker wird hier als anwesend geführt, der Ministerrat beschließt aber unter dem dortigen TOP IV, eine Entscheidung wegen der Abwesenheit Ruckers zurückzustellen. Gleichzeitig aber scheint Staatsminister Rucker unter einem späteren Tagesordnungspunkt von Ministerpräsident Hoegner direkt angesprochen worden zu sein. Ob Kultusminister Rucker nur zeitweilig nicht am Ministerrat teilgenommen hat, oder ob hier ein Irrtum oder ein Fehler in der Protokollführung vorliegt, muß an dieser Stelle offen bleiben.

Staatsminister Rucker jedenfalls war im Regierungsjahr 1955 mit Abstand am häufigsten entschuldigt, in insgesamt 17 Sitzungen. Neben den Kabinettssitzungen vom 29. März und 31. Mai fehlte der Kultusminister krankheitsbedingt durchgehend vom 30. August bis zum 13. Dezember. Generell ist die Abwesenheit der Vertreter des Staatsministeriums für Unterricht und Kultus auffällig, denn auch Staatssekretär Meinzolt war in 12 Sitzungen entschuldigt. Zum Ministerrat vom 6. Dezember stieß Staatssekretär Meinzolt verspätet hinzu. Ebenfalls 12 Absenzen hatte Staatssekretär Haas. Der Leiter der Staatskanzlei befand sich von Mitte Oktober bis Mitte November 1955 im Rahmen eines von der US-Regierung durchgeführten Austausch- und Weiterbildungsprogramms für bayerische Vertreter aus Politik, Wirtschaft und Kultur auf einer sechswöchigen Informationsreise durch die USA.20 Ebenfalls häufig fehlten Arbeitsminister Stain (elf Absenzen) sowie der Stellvertredende Ministerpräsident und Landwirtschaftsminister Baumgartner (zehn Absenzen) und Justizminister Koch (neun Absenzen). Finanzminister Zietsch war achtmal entschuldigt, Wirtschaftsminister Bezold, Innenstaatssekretär Vetter und der Staatssekretär im Staatsministerium für Arbeit und soziale Fürsorge, Weishäupl, jeweils fünfmal. Staatssekretär Simmel vom Staatsministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten sowie Wirtschaftsstaatssekretär Guthsmuths fehlten jeweils in vier Sitzungen. Regelmäßigster Teilnehmer – neben Ministerspräsident Hoegner und Staatsminister Geislhöringer – am Ministerrat war der in den Protokollen verhältnismäßig unauffällige Justizstaatssekretär Eilles mit nur drei Fehlterminen.

Neben den 16 Regierungsmitgliedern waren regelmäßige Teilnehmer an den Ministerratssitzungen der in der Staatskanzlei für Bundesangelegenheiten zuständige Ministerialrat Erich Gerner (55 Sitzungsteilnahmen) sowie der Chef des Presse- und Informationsamtes der Staatskanzlei, Franz Baumgärtner (53 Sitzungteilnahmen).21 In fünf der neun Sitzungen, in denen Baumgärtner abwesend war, nahm an dessen Stelle der seit 1953 als stellvertretender Direktor des Presse- und Informationsamtes und seit Februar 1955 auch als persönlicher Referent des Ministerpräsidenten tätige Johannes Pfefferkorn an den Ministerratssitzungen teil.

In acht der 62 Kabinettssitzungen waren zumeist nur zu einzelnen Tagesordnungspunkten Beamte der Ministerialbürokratie als Berichterstatter oder Sachverständige anwesend. In der zweiten Ministerratssitzung vom 21. Dezember 1954 vertrat Ministerialdirigent Bachl vom Finanzministerium die Haltung seines Ressorts in der Frage der Versorgung der ehemaligen Mitglieder der Staatsregierung. Im Ministerrat vom 25. Januar 1955 erläuterte der Referent für Besatzungsangelegenheiten in der Staatskanzlei, Helmuth Penzel, die Inanspruchnahme und die geplante Erweiterung von elf Flugplätzen in Bayern durch die US-amerikanische Luftwaffe. Im Außerordentlichen Ministerrat vom 31. Januar 1955 referierten Ministerialdirigent Freudling vom Staatsministerium der Finanzen und Ministerialrat Eggendorfer vom Staatsministeriums für Wirtschaft und Verkehr über die Vorgeschichte und den Verlauf der Veräußerung der Bavaria Filmkunst. Ministerialdirigent Freudling nahm weiterhin am Ministerrat vom 11. Juli 1955 teil, in dem er als Sachverständiger zum Kriegsfolgenschlußgesetz auftrat, das der Bereinigung von Verbindlichkeiten des Reiches, der Reichsbahn und der Reichspost, des früheren Landes Preußen und des Unternehmens Reichsautobahnen dienen sollte. Im Ministerrat vom 1. Februar 1955 informierte der Bevollmächtigte Bayerns beim Bund, Claus Leusser, über die schwierigen Verhandlungen zwischen Bund und Ländern über die Neuordnung des Rundfunkwesens, und Ministerialdirigent Baer von der Staatskanzlei hielt ein Grundsatzreferat zur Pfalzfrage. Nochmals besteiligt an der Besprechung einer künftigen Rückgliederung der Pfalz an Bayern war Ministerialdirigent Baer im Ministerrat vom 19./20. Dezember 1955. Zu einer Gelegenheit, am 8. März 1955, war der Leiter der Protokollabteilung der Staatskanzlei, Ministerialrat Freiherr Philipp v. Brand, zu Gast in der Kabinettssitzung, um einen Kurzbericht über den Besuch des persischen Kaiserpaares in München zu geben. Ebenfalls einmal im Ministerrat anwesend war am 27. Dezember Ministerialdirektor Kiefer vom Staatsministerium der Finanzen, der stellvertretend für den abwesenden Finanzminister und den ebenfalls entschuldigten Finanzstaatssekretär zur Frage der Richterbesoldung sprach.

Markante Ausnahmen und gleichzeitig auch ein Novum sind, mit Blick auf den eingeladenen und teilnehmenden Personenkreis, die beiden Außerordentlichen Ministerratssitzungen vom 17. Januar und vom 6. Juni 1955. An diesen beiden Kabinettssitzungen nahmen auch die Vorsitzenden der vier Regierungsfraktionen im Bayerischen Landtag teil. Am 17. Januar behandelte das Kabinett in Anwesenheit von Waldemar von Knoeringen (SPD), Carljörg Lacherbauer (Bayernpartei), Walter Becher (BHE) und Karl Eberhardt (FDP) den Verkauf der staatlichen Anteile an der Maximilianshütte. Am 6. Juni stand die Erörterung der Finanzpolitik des Freistaates auf der Tagesordnung, an Stelle des FDP-Fraktionsvorsitzenden Eberhardt nahm hier als vierte Vertreterin der Koalitionsparteien die FDP-Landtagsabgeordnete Hildegard Brücher teil.

Die Mitschrift und die endgültige Abfassung der Ministerratsprotokolle lag wie in den Vorjahren auch fast ausschließlich in der Verantwortung des Generalsekretärs des Ministerrates, Levin Freiherr von Gumppenberg. Sechs Protokolle wurden von Hans Kellner ausgefertigt. Hinsichtlich des Stils, des Umfanges und der Gestaltung der Niederschriften der zwei Protokollanten lassen sich keine signifikanten Charakteristika oder Unterschiede festmachen.

Sowohl von den genannten Protokollführern wie von Ministerpräsident Hoegner wie auch von Staatssekretär Haas wurden in den Protokollentwürfen des Registraturexemplars im Bayerischen Hauptstaatsarchiv, die die Vorlagen für die endgültigen, an die Teilnehmer des Ministerrates versandten Schlußfassungen bildeten, zum Teil handschriftliche Änderungen und Korrekturen vorgenommen. Hierbei ist gegenüber den Vorjahren eine signifikante Veränderung zu beobachten: Nachdem es insbesondere in den Ministerratsprotokollen 1947/48 noch zahlreiche glättende oder mäßigende sprachliche Eingriffe zur Entschärfung der Diktion gegeben hatte, dann ab den Protokollen des Jahres 1949f. und denjenigen des Kabinetts Ehard III ab dem Jahre 1951 zumeist nur Berichtigungen von Schreib- oder Übertragungsfehlern oder geringfügige sprachlich-stilistische Verbesserungen und sachliche Ergänzungen – überwiegend zur Präszisierung juristischer Sachverhalte – angebracht wurden, ist in den Registraturexemplaren des Kabinetts Hogner II wieder ein deutlicher Anstieg an Korrekturen und teilweise umfänglichen Änderungen am Text zu verzeichnen. Punktuell wurden diese Abänderungen auch nicht handschriftlich, sondern auf dem Registraturexemplar angehefteten maschinenschriftlichen Seiten dokumentiert.

Die im Registraturexemplar enthaltenen Protokolle sind immer von Ministerpräsident Hoegner, dem jeweiligen Protokollführer und dem Leiter der Staatskanzlei Albreht Haas abgezeichnet – mit Ausnahme der Protokolle Nr. 48 bis Nr. 56, in denen die Unterschrift von Staatssekretär Haas aufgrund von dessen sechswöchiger USA-Reise fehlt.

Ebenfalls mit handschriftlichem Vermerk ist in den Entwürfen des Registraturexemplars stets das Datum genannt, an dem die Protokolle in ihrer endgültigen Fassung den Teilnehmern des Ministerrats zugesandt wurden. Der durchschnittliche zeitliche Abstand zwischen dem protokollierten Sitzungstermin und dem Versand der Niederschriften betrug in der Regel zwischen zwei und drei Wochen. Gängige Praxis war es auch, mehrere Protokolle gesammelt zu verschicken. Neben den Kabinettsmitgliedern erhielt auch Erich Gerner ein Exemplar des hektographierten Protokolls zur Leitung der Koordinierungsbesprechungen sowie zum Vortrag über Bundesangelegenheiten in den jeweils folgenden Kabinettssitzungen. Es darf ferner angenommen werden, daß auch der Bevollmächtigte Bayerns in Bonn, Claus Leusser, ein Exemplar erhielt.

Es ist von der Praxis auszugehen, daß der Protokollführer die Reinschrift nach eigener Durchsicht dem Ministerpräsidenten bzw. dem Stellvertretenden Ministerpräsidenten als Vorsitzenden des Ministerrats nochmals zur Genehmigung vorlegte. Nach Durchsicht, Korrektur und Freigabe konnte das Protokoll vervielfältigt und verteilt werden.

Es oblag anschließend den Ministern und Staatssekretären, die Regierungsbeschlüsse auf der Basis der Ministerratsprotokolle an die ihnen nachgeordneten Behörden und Referenten zur Bekanntgabe und zum Vollzug weiterzuleiten. In vielen Fällen wurden zu diesem Zweck maschinenschriftliche Auszüge angefertigt, die dem Referenten nur den zur Erledigung eines Beschlusses nötigen Abschnitt des Protokolls zur Kenntnis brachten. Diese Protokollauszüge finden sich zahlreich in den Sachakten der Staatskanzlei und der Ministerien.

Bei den Protokollen des bayerischen Ministerrats handelt es sich auch 1955 weiterhin und zumeist um in indirekter Rede gehaltene ausführliche Verlaufsprotokolle. Im Gegensatz zu reinen Ergebnisprotokollen werden hier der Diskussionsverlauf, der Prozeß der Meinungsbildung oder auch sachliche wie persönliche Konfliktlinien im Ministerrat deutlich nachvollziehbar, wenn natürlich auch ein Verlaufsprotokoll nur eine geraffte Form der Wiedergabe darstellt und durch oft wiederkehrende Formulierungen wie „nach längerer Debatte“, „nach kurzer Aussprache“ u.ä. offensichtlich die schriftliche Dokumentation kontroverser Debatten im Ministerrat abgemildert oder vermieden werden sollte. Nur bei offensichtlich wenig umstrittenen oder tendenziell nebensächlichen Sachfragen finden sich regelmäßig nur sehr kurze allgemein-zusammenfassende Formulierungen wie „Bedenken werden nicht erhoben“, „Der Ministerrat beschließt Zustimmung“, oder „Der Ministerrat beschließt, Stimmenthaltung zu üben“. Insbesondere trifft dies für die Behandlung der im Regierungsjahr 1955 auch weiterhin quantitativ anwachsenden Bundesratsangelegenheiten zu. In diesem Zusammenhang ist auch festzuhalten, daß die in den Ministerratsprotokollen dokumentierten Beiträge von Erich Gerner zur Bundesgesetzgebung und zur Tagesordnung des Bundesrates oft wörtlich mit dem in aller Regel sehr knapp formulierten Protokoll der vorangegangenen Koordinierungsbesprechung übereinstimmen.

Neben den Kabinettssitzungen fanden auf wöchentlicher Basis und in aller Regel am Montag vor dem Ministerrat Sitzungen des Koalitionsausschusses der vier Regierungsparteien statt. Regelmäßige Teilnehmer des Koalitionsausschusses waren die Fraktionsvorsitzenden der Regierungsparteien oder im Verhinderungsfalle deren Stellvertreter sowie je ein Kabinettsmitglied der Koalitionsparteien.22 Tagungsort war das Landtagsbüro des SPD-Abgeordneten und Landtagsvizepräsidenten Georg Hagen.23 Solche Koalitionsbesprechungen hatte es wohl bereits auch unter der großen Koalition des Kabinetts Ehard III gegeben, wie regelmäßig diese abgehalten wurden, bleibt jedoch offen: Es existieren hier nur vereinzelte Hinweise in den früheren Ministerratsprotokollen. Mit der bewußt routinemäßigen Einberufung des Koalitionsausschusses unter der Regierung Hoegner II finden sich nunmehr im Nachlaß Hoegner im Institut für Zeitgeschichte und im Nachlaß Becher im Bayerischen Hauptstaatsarchiv die vollständigen Protokollserien dieser Koalitionssitzungen.24 Diese Niederschriften waren für die Kommentierung der Ministerratsprotokolle jedoch nur punktuell ergiebig, handelt es sich hier doch durchgehend um sehr kurz gefaßte Ergebnisprotokolle.

Während unter der Viererkoalition einerseits mit Blick auf die Protokollführung, den Prozeß des Redigierens, der Endabfassung und Verteilung der Ministerratsprotokolle an den eingespielten Arbeitsabläufen in der Staatskanzlei keine nennenswerten Änderungen eingetreten sind, tragen die Kabinettsprotokolle ab dem Jahre 1955 andererseits einen durchaus auffälligen, neuartigen inhaltlichen Charakter. Zum ersten in rein quantitativer Hinsicht: Nicht nur ist die Gesamtzahl von 62 Ministerratssitzungen für ein Regierungsjahr außergewöhnlich hoch, sondern auch der Umfang der Einzelprotokolle wächst an. 20 oder mehr einzelne Tagesordnungspunkte sind keine Ausnahme, und auch die Zahl der behandelten Bundesratsangelegenheiten wächst, ungebrochen dem Trend seit Gründung der Bundesrepublik folgend, stetig an. Im Ministerrat vom 19. Juli 1955 etwa wurden für die darauffolgende Bundesratssitzung 62 Punkte erörtert, in der Sitzung vom 4. Oktober waren es 49 Bundesrats-Angelegenheiten, am 19. Dezember immerhin noch 42 Einzelthemen.25 Wichtiger jedoch ist – zweitens – eine andere Feststellung: Die Ministerratsprotokolle 1955 werden merklich „politischer“. Nach den Jahren der großen Koalition und der nachgerade symbiotischen Team- und Regierungsarbeit des CSU-Ministerpräsidenten Hans Ehard und seinem SPD-Stellvertreter Wilhelm Hoegner spiegeln die Protokolle nunmehr deutlich und an zahlreichen Stellen politische Konfliktlagen wider. Zwar nimmt wie in den Regierungsjahren zuvor die gesetzgebende Materie nach wie vor goßen Raum ein, jedoch rücken in den Regierungsberatungen nunmehr allgemeine politische Fragen wie auch parteipolitische Aspekte spürbar in den Vordergrund, und gleichzeitig werden politische Diskrepanzen deutlich offener debattiert. In dem naturgemäß heterogenen Vier-Parteien-Kabinett werden – anders als in den voherigen Regierungsjahren – durchaus markante Unterschiede in der politischen Prioritätenskala sichtbar, ebenso die nicht selten handfesten Konkurrenzverhältnisse und teilweise auch die grundsätzlichen Kompetenzkonflikte zwischen den von Ministern unterschiedlicher Parteizugehörigkeit geführten Einzelressorts. Überdies war die Kabinettsdisziplin unter der neuen Regierung von Anfang an durchaus problematisch. Eigenmächtigkeiten – und streckenweise auch: die Unerfahrenheit – der neuen Minister, die Mißachtung von regierungs- oder koalitionsinternen Absprachen, vor allem aber regelmäßige Indiskretionen, die Beratungsergebnisse aus dem Ministerrat anonym und vorzeitig nach außen trugen, forderten Ministerpräsident Hoegner in seiner Richtlinienkompetenz mehr als einmal heraus. Neu in ihrem Ausmaß in den Ministerratsprotokollen des Regierungsjahres 1955 ist auch die regelmäßige und ausführliche Diskussion von Landtagsangelegenheiten. Wiederholt wird der strategische Umgang mit der oppositionellen Landtags-CSU erörtert, umgekehrt aber auch regelmäßig das Abstimmungsverhalten der vier Regierungsfraktionen koordiniert oder die Öffentlichkeitsarbeit der Regierung im Landtag taktisch festgelegt. Auffällig in den Protokollen ist weiterhin die häufige Behandlung von Presseartikeln, in denen politische Angriffe gegen die Viererkoalition geführt wurden. Die Regierung Hoegner II stand von Anbeginn an im kritischen Fokus nicht nur der CSU, sondern auch der konservativen bayerischen Tagespresse und der Kirchenblätter. Auch die zahlreichen Fälle von Verunglimpfung oder Beleidigung der Staatsregierung, die vermehrt auf die Tagesordnung des Ministerrats gesetzt wurden, sind Ausdruck eines raueren politischen Klimas im Freistaat.

Der Umstand, daß in den Ministerratssitzungen der Viererkoalition in signifikant höherem Maße Themen behandelt wurden, die gewissermaßen „von außen“ an die Regierung herangetragen wurden, Fragen, die nicht immer unmittelbar etwa die Gesetzgebungstätigkeit oder die Sacharbeit der Einzelressorts betrafen, hat auch Auswirkungen auf die Kommentierung der Quellentexte. Auffallend häufig finden sich im Vergleich zu den vorausgehenden Jahren in den Protokollen Formulierungen wie „Ministerpräsident Hoegner verliest ein Schreiben vom…“, „Ministerpräsident Hoegner übergibt eine Note an...“, „Ministerpräsident Hoegner nimmt Bezug auf eine Mitteilung von...“ u.ä. Oftmals handelte es sich hier um einzelne Anschreiben, Eingaben, Beschwerden, die in der Ministerialüberlieferung im Bayerischen Hauptstaatsarchiv nicht eindeutig bestimmbaren Sachakten zugeordnet werden konnten – Fälle also, bei denen die Archivrecherche ergebnislos bleiben mußte. Generell ist zu bemerken, daß unter der Viererkoalition die Aktenführung der Ressorts teilweise etwas unorthodox gewesen zu sein scheint. Zu einer Reihe von Tagesordnungspunkten etwa ließen sich keinerlei Akten ermitteln, und es ist in der Tat stark zu vermuten, daß manche Materialien und Schriftstücke ihren Weg nicht in die Überlieferung der Ministerien, sondern gewissermaßen in die Privatregistratur einzelner Regierungsmitglieder fanden. Ein markantes Beispiel hierfür sind die Unterlagen betreffend die Saalforsten im bayerisch-österreichischen Grenzgebiet und die von Ministerpräsident Hoegner initiierte Novellierung der bayerisch-österreichischen Salinenkonvention von 1957:26 Die entsprechende Korrespondenz zwischen Ministerpräsident Hoegner und dem österreichischen SPÖ-Vorsitzenden und Vizekanzler Adolf Schärf findet sich nicht in den Akten der Bayerischen Staatskanzlei, sondern nur im Nachlaß Hoegner.27

Das bemerkenswerteste Novum der Ministerratsprotokolle 1955 ist jedoch, daß die Kabinettsberatungen teilweise im Geheimen geführt wurden und für einzelne Ministerratssitzungen streckenweise kein offizielles Protokoll existiert. Als erster Sonderfall ist das Protokoll Nr. 32 vom 6. Juni 1955 zu nennen: Dieser Außerordentliche Ministerrat, an dem auch führende Abgeordnete der vier Landtagsfraktionen teilnahmen und in dem die Finanzpolitik des Freistaates diskutiert wurde, wurde auf Vorschlag des Ministerpräsidenten zur Geheimsache deklariert. Die einzelnen Endausfertigungen der Ministerratsprotokolle waren durchzunumerieren und den Regierungsmitgliedern persönlich auszuhändigen. Dieses Protokoll Nr. 32 ist daher auch nur im Registraturexemlar der Staatskanzlei überliefert, nicht in der Serie mit den Ausfertigungen der Protokolle; ferner befindet sich ein Exemplar im Nachlaß Hoegner.

Lücken in der Protokollführung finden sich bei drei weiteren Ministerratssitzungen: Im Ministerrat vom 4. Oktober (Nr. 48) wurde die Sitzung bei der Behandlung der Besetzung des Chefredakteurspostens der Bayerischen Staatszeitung, so das Protokoll, „auf eine Stunde unterbrochen und als vertrauliche Sitzung weitergeführt.“ Auch der letzte Ministerrat des Jahres 1955 vom 27. Dezember (Nr. 62) wurde bei einer Gesamtdauer von knapp über drei Stunden für annährend zwei Stunden „als geschlossene Sitzung ohne Protokollführer“ abgehalten. Hinweise auf die vertraulich behandelten Beratungsgegenstände konnten hier nicht ausfindig gemacht werden. Schließlich wurden auch in die Niederschrift der Besprechung mit dem Bundesverteidigungsminister und Vertretern des Bundesministeriums der Verteidigung am 15. November 1955 auf Bitte von Theodor Blank die Ausführungen zur Frage der Übernahme des Bundesgrenzschutzes durch das Bundesverteidigungsministerium nicht in das Protokoll aufgenommen.

II.Regierungsbildung

Die Wahl zum dritten Bayerischen Landtag 28.11.1954 endete, rein vom statistischen Wahlergebnis aus betrachtet, ohne große Überraschungen, die darauffolgende Regierungsbildung allerdings mündete in einen auch über die weiß-blauen Landesgrenzen hinweg viel beachteten Paukenschlag: Trotz eines deutlichen Anstiegs in der Wählergunst und ihres Wahlsieges wurde die Christlich-Sozialen Union, als bisherige Seniorpartnerin und Ministerpräsidenten-Partei in einer großen Koalition, von der Regierung ausgeschlossen.28

Mit 38% der Wählerstimmen konnte die CSU ihr schwaches Ergebnis der vorausgegangenen Landtagswahlen vom 26. November 1950 um 10,6% steigern,29 blieb jedoch deutlich unter ihren Zustimmungswerten von 47,2% in der Bundestagswahl vom September 1953. Die Ergebnisse sowohl der SPD wie der FDP blieben mit 28,1% und 7,2% im Vergleich zu den Wahlen von 1950 de facto unverändert, beide Parteien verzeichneten einen Zuwachs von jeweils 0,1%. Die Bayernpartei sank deutlich von 17,9% auf 13,2% Stimmenanteil, konnte ihre Position im Vergleich zur Bundestagswahl von 1953, in der sie nur 9,2% gewonnen hatte, allerdings wieder ausbauen. Der Gesamtdeutsche Block/Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten kam auf 10,2%, was einem Stimmenverlust von 2,1% entsprach. Bei dieser Stimmenverteilung standen der CSU im neuen Landtag 83 Sitze zu, der SPD 61, die Bayernpartei kam auf 28 Abgeordnete, der GB/BHE auf 19 und die FDP auf 13 Sitze.

Dieses Wahlergebnis ließ eine Regierungsbildung unter Führung der CSU am wahrscheinlichsten, ja im Grunde als selbstverständlich erscheinen – entweder als Fortsetzung der großen Koalition, gegebenfalls unter erneuter Hereinnahme des GB/BHE, oder alternativ als Koalition von CSU und Bayernpartei mit dem GB/BHE oder der FDP als drittem Partner. Die rechnerisch auch mögliche Konstellation aus SPD, BP, GB/BHE und FDP hatte unmittelbar nach Bekanntgabe des Wahlergebnisses wohl kein zeitgenössischer politischer Beobachter auf dem Zettel.

Es ist davon auszugehen, daß zumindest innerhalb der Regierungsmannschaft des Kabinetts Ehard III und in ihrem Umfeld überwiegend mit einer Neuauflage und nahtlosen Fortführung der großen Koalition gerechnet wurde. Auf das trotz ihrer unterschiedlichen Parteizugehörigkeit reibungslose Zusammenspiel zwischen Hans Ehard und seinem stellvertretenden Ministerpräsidenten Wilhelm Hoegner, beides in der bayerischen Staatsverwaltung sozialisierte Juristen und in vielen politischen Fragen stets im Einklang, insbesondere was das Prinzip des Föderalismus und Bayerns Stellung im Bund betraf, wurde bereits verwiesen. Und auch wenn die Parteipolitik in den Ministerratsprotokollen seit jeher weitgehend ausgeklammert blieb, so erscheint es trotzdem bemerkenswert, daß ein Ereignis wie der Wahlkampf des Jahres 1954 in den Niederschriftem der Kabinettssitzungen keinerlei Niederschlag fand – mit nur einer Ausnahme: der Herausgabe einer Ausgabe der Staatszeitung zur Landtagswahl, einer „Wahlnummer der Staatszeitung“, in der nicht nur wahlrechtliche und wahltechnische Informationen dargeboten werden sollten, sondern ebenfalls ein umfassender und positiver Rückblick auf die Arbeit der großen Koalition geworfen wurde.30 Die SPD in ihrer Gesamtheit, ihrerseits mit der Bilanz ihrer Regierungsbeteiligung zwischen 1950 und 1954 durchaus und weitgehend zufrieden und an weiterer Regierungsverantwortung interessiert, war einer Fortsetzung der großen Koalition keinesfalls abgeneigt.31

Die entscheidenden Impulse zum Ablauf der Regierungsbildung Anfang Dezember 1954 gingen von der CSU-Landtagsfraktion aus – wenn auch letztendlich, was den Ausgang der Koalitionsverhandlungen betraf, nicht im ursprünglich intendierten Sinne. Als eindeutige Wahlsiegerin und in Anbetracht des errungenen signifikanten Stimmenzuwachses nahm die CSU den Regierungsauftrag – verständlicherweise – für sich in Anspruch. Unmittelbar nach Bekanntwerden des Wahlausgangs plädierten führende CSU-Politiker, insbesondere der frühere Kultusminister, CSU-Fraktionsvorsitzende und Landtagspräsident Alois Hundhammer, der Fraktionsvorsitzende Georg Meixner, auch der CSU-Bundesfinanzminister Fritz Schäffer wie auch der bayerische Wirtschaftsminister Hanns Seidel, gegen eine Fortführung der Koalition mit der SPD. Hierfür gab es wohl drei Hauptgründe: Zum ersten war der Landtagswahlkampf 1954, der insgesamt betrachtet von allen Parteien verhältnismäßig moderat, weitgehend ohne offene Feindseligkeiten und somit unter Offenhaltung aller künftigen Koalitionsoptionen ausgetragen worden war, in erster Linie von kulturpolitischen Fragen bestimmt gewesen. Der von der SPD unter der Parole „Licht übers Land“ geführte Wahlkampf 1954 war in weiten Teilen immer noch eine Auseinandersetzung mit dem Erbe der restaurativen Schulpolitik der Ära Hundhammer zwischen 1946 und 1950, in der der damalige bayerische CSU-Kultusminister mit Erfolg und gegen den Widerstand der US-Besatzungsmacht und der linken und liberalen Parteien das Bekenntnisprinzip und die konfessionelle Trennung im Volksschulwesen verteidigt hatte. Konkret ging es der SPD im Wahlkampf 1954 um die aus ihrer Sicht längst überfällige Reform der Lehrerausbildung, die konfessionsübergreifend an Hochschulen erfolgen sollte. Entsprechende Versuche, hier eine neue gesetzliche Regelung einzuführen, waren seit 1950 stets im Sande verlaufen bzw. von der Staatsregierung dilatorisch behendelt worden.32 Weite Teile der bildungspolitisch konservativ orientierten CSU, allen voran Alois Hundhammer und Georg Meixner, lehnten die kulturpolitischen Bestrebungen der SPD – denen sich während des Wahlkampfes auch die BP und insbesondere in hohem Maße die FDP angeschlossen hatten33 – im Grundsatz ab.

Zum zweiten suchte eine Mehrheit in der CSU nach der Landtagswahl 1954 eine Wiederholung der turbulenten Koaltitionsverhandlungen von 1950 zu verhindern.34 Schon die Regierungsbildung im Dezember 1950 war innerparteilich höchst umstritten gewesen, innerhalb der CSU-Fraktion standen sich seinerzeit zwei ungefähr gleich große Lager gegenüber: Das eine um den Ministerpräsidenten Hans Ehard, das sich letzten Endes durchsetzte, favorisierte aus pragmatischen Gründen und aus Abneigung gegen die politisch unberechenbare Bayernpartei die große Koalition mit der SPD, das andere um den Fraktionsvorsitzenden Hundhammer trat vehement für ein Zusammengehen von CSU und Bayernpartei ein, auch wenn diese Koalition nur die hauchdünne Landtagsmehrheit von einer Stimme gehabt hätte. Für die Konservativen in der CSU war die Bayernpartei, die in den Landtagswahlen 1950 insbesondere in den altbayerischen Gebieten – Oberbayern, Niederbayern, Oberpfalz – noch erheblich im Wählerreservoir der CSU gewildert hatte, auch nach der Wahl von 1954 die gleichsam weltanschaulich nächste Verwandte, mit der man in den Grundsatzfragen christlich-konservativer Politikgestaltung und bayerisch-föderalistischer Prizipien im Gleichklang zu sein glaubte. Eine erneute ungeliebte Zweckehe mit der Sozialdemokratie sollte nicht nur nach Auffassung der CSU-Konservativen, sondern auch nach Meinung vieler anderer Parteimitglieder in der dritten Wahlperiode vermieden werden.

Nicht zu vernachlässigen sind schließlich drittens und zuletzt auch die Nachwirkungen persönlicher Kränkungen und Empfindlichkeiten in der CSU. Schon der Landtagswahlkampf 1950 war von der bayerischen SPD – wie 1954 – stark auf die Kuturpolitik, vor allem aber auch sehr personalisiert auf die Person des umstrittenen und unbeliebten Kultusministers Alois Hundhammer ausgerichtet gewesen. Die Ablösung Hundhammers im Amt war für die SPD als oberstes Ziel in den Koalitionsverhandlungen 1950 nicht verhandelbar. Einzig den Posten des Landwirtschaftsministers hätte die SPD dem bisherigen Kultusminister zugestanden – ein für diesen erniedrigendes und inakzeptables Angebot. Die Hundhammer-Fraktion in der CSU wird die Ausbootung des Kultusministers in den seinerzeitigen Koalitionsverhandlungen, die auch zu einem Bruch zwischen Hundhammer und dem alten wie neuen Ministerpräsidenten und Parteivositzenden Hans Ehard führte, nicht vergessen haben – und auch die Tatsache, daß die Koalitionspartner CSU und SPD Alois Hundhammer nur wenig später, im Juni 1951, einvernehmlich das wichtige und ehrenvolle Amt des Landtagspräsidenten übertrugen, dürfte daran wenig geändert haben.

Unmittelbar nach dem Erfolg in der Landtagswahl trat die CSU zudem äußerst selbstbewußt, mit einem unbedingten Macht- und Führungsanspruch und mit wenig rhetorischer Sensibilität gegenüber den anderen Parteien auf.35 Gleichzeitig aber versäumten es die Christsozialen aus einem falschen Sicherheitsgefühl heraus, die Regierungsbildung zügig und taktisch durchdacht vorzubereiten. Am 30. November 1954 empfing Ministerpräsident Ehard zunächst den Vorsitzenden der BP, Joseph Baumgartner, zu einem ersten Sondierungsgespräch.36 Damit hatte sich Hans Ehard dem Erwartungsdruck seiner Partei gebeugt. Denn die Abneigung und das Mißtrauen des – dem eigenen Selbstverständnis nach – politisch stets nüchtern agierenden und der sachlichen Regierungsarbeit verpflichteten Ministerpräsidenten gegenüber dem populistischen wie oftmals unberechenbaren und erratischen Politikstil der Bayernpartei war nach wie vor offensichtlich.37 Auch die BP dürfte, nach ihren Erfahrungen und dem Ausschluß bei der Regierungsbildung 1950, mit gewissen Vorbehalten in die Konsultationen gegangen sein. Noch am gleichen Tage traf Ehard sich mit dem geschäftsführenden Landesvorsitzenen des GB/BHE, Willi Guthsmuths, sowie mit Waldemar von Knoeringen und Wilhelm Hoegner von der SPD. Am darauffolgenden 1. Dezember kam es zu einem Zusammentreffen mit dem Fraktionsvorsitzenden der FDP, Otto Bezold. Das einzige gemeinsame Ergebnis dieser Vorsondierungen war im Grunde nur ihre Unverbindlichkeit. Eine künftige Regierungsbeteiligung der Bayernpartei schien nicht ausgeschlossen, eine Mitarbeit des GB/BHE war von beiden Seiten gewünscht, bei der SPD blieben – nach einem offensichtlich kühlen Empfang durch Ehard – erhebliche Zweifel an der Bereitschaft der CSU zur Fortführung der gemeinsamen Regierungsarbeit zurück,38 und die Gespräche mit der FDP schienen aufgrund unüberbrückbarer kulturpolitischer Differenzen von vornherein wenig zielführend zu sein. Erheblich erschwert wurde die Aufnahme der Koalitionsbildung nicht zuletzt dadurch, daß der Ministerpräsident und Parteivorsitzende Hans Ehard zu diesem Zeitpunkt von Seiten der CSU noch kein offizielles Mandat für die Verhandlungen erhalten hatte; gleiches traf übrigens, wie bei einem zweiten Treffen mit der Bayernpartei am 2. Dezeber 1954 betont wurde, auch für den BP-Vorsitzenden Baumgartner zu. Erst am 3. Dezember faßten der Fraktionsvorstand der CSU und die CSU-Landesgruppe den Beschluß, eine Regierung mit der Bayernpartei und dem GB/BHE bilden zu wollen, und es vergingen weitere wertvolle Tage bis zum 6. Dezember, bis sich die CSU-Landtagsfraktion bei nur einer Gegenstimme ebenfalls für diese Koalitionszusammensetzung aussprach und eine offizielle Verhandlungskommission berief.39

Zu diesem Zeitpunkt allerdings hatten die Ereignisse die CSU schon weit überholt, die Siegesgewißheit der Union war zunächst in eine gewisse dünkelhafte politische Trägheit und schlußendlich in eine totale Überrumpelung gemündet. Anfang Dezember 1954 aufkeimenden Gerüchten über eine Annäherung zwischen den vier kleinen Landtagsparteien hatte man weder Beachtung noch Glauben geschenkt und war entsprechenden Hinweisen nicht nachgegangen.

Spätestens unmittelbar nach dem gemeinsamen ernüchternden Besuch mit Wilhelm Hoegner bei Ministerpräsident Ehard am 30. November hatte der SPD-Fraktionsvorsitzende Waldemar v. Knoeringen die persönliche und zunächst alleinige Entscheidung gefällt, im bayerischen Koalitionspoker in die Offensive zu gehen und – so sein allseits bekanntgewordenes Zitat – „ein Königreich zu verkaufen, was ich nicht besaß und einfach mehr zu bieten als die CSU“.40

Offiziell abgesegnet wurde dieses Vorgehen durch die SPD erst nachträglich durch Beschluß des Landesausschusses am 5. Dezember. Am Tage der ersten Unterredung mit Ministerpräsident Ehard am 30. November noch ließ v. Knoeringen über einen Vertrauensmann, den Leiter der Schulpolitischen Hauptstelle des bayerischen Lehrerinnen- und Lehrerverbandes Wilhelm Ebert, der Bayernpartei ein Koalitionsangebot zukommen, das Tags darauf nochmals erneuert wurde.41 Dieses Angebot beinhaltete in personalpolitischer Hinsicht das Versprechen zweier Ministerposten, das Amt des stellvertretenden Ministerpräsidenten und zwei Staatssekretäre. Im gleichen Zeitraum kam es zu einem Gespräch zwischen v. Knoeringen und dem FDP-Fraktionsvorsitzenden Otto Bezold, am 2. Dezember dann zu einem ersten gemeinsamen Treffen zwischen Hoegner, v. Knoeringen, Baumgartner und Bezold sowie einer ersten Zusammenkunft von v. Knoeringen und Vertretern des GB/BHE. Die folgenden Tage waren bei den drei potentiellen Juniorpartnern der SPD noch von z.T. heftigen internen Auseinandersetzungen und politischen Selbstfindungprozessen geprägt. Joseph Baumgartner, obschon hier Vertreter der Minderheitenposition innerhalb der BP, war im Grundsatz nach wie vor für eine Koalition mit der CSU offen. Die Fraktionsmehrheit unter dem CSU-Renegaten Carljörg Lacherbauer jedoch lehnte eine erneute Zusammenarbeit mit der CSU vor allem aufgrund der Vorkommnisse bei der zurückliegenden Regierungsbildung von 1950 weiterhin strikt ab. Auch der bayerische GB/BHE war in der Koalitionsfrage unentschlossen bis tief gespalten.42 Ein Teil der Partei – ein prominenter Vertreter war hier Staatssekretär Guthsmuths – befürwortete die weitere Zusammenarbeit mit der CSU. Allerdings geriet der kleine bayerische GB/BHE bei den Koalitionsverhandlungen auch in den Sog der großen Bundespolitik: Einflußreiche Bundespolitiker wie der Bundesminister für Sonderaufgaben Waldemar Kraft und der Bundesvertriebenenminister und gleichzeitige BHE-Vorsitzende im Bund und in Bayern, Theodor Oberländer, plädierten vehement für den Verbleib ihrer Partei in einer CSU-geführten Staatsregierung mit dem Ziel der Stärkung des GB/BHE innerhalb der bürgerlichen Regierung in Bonn, und insbesondere verbunden mit der Hoffnung, innerhalb der Adenauer-Regierung weiteres Wohlwollen gegenüber der Interessenspolitik der Vertriebenen zu finden. Ein anderer Flügel des GB/BHE dagegen verbat sich jegliche Einmischung von Bonner Seite. Auch fiel die Bilanz der Regierungsbeteiligung des GB/BHE in Bayern von 1950 bis 1954 aus Sicht vieler Vertriebenenpoliker gemischt aus, man fühlte sich als „5. Rad am Wagen“.43 In einer Koalition mit der SPD sei man eher ein gleichberechtigter Partener und habe mehr Spielraum für die Gestaltung der Vertriebenenpolitik insbesondere auf dem Feld der Sozialpolitik.

Zuletzt war auch die Haltung der dritten potentiellen Juniorpartnerin einer Viererkoalition, der FDP, nicht einheitlich und – wie im Falle des GB/BHE – teilweise von der Bundespolitik beeinflußt. Es existierten in der FDP Kräfte, darunter etwa der frühere Bundesjustizminister Thomas Dehler, gleichzeitig Vorsitzender der Bundes- wie der bayerischen Landes-FDP, die sich bewußt von den bürgerlich-christlichen Parteien CDU/CSU emanzipieren wollten, insbesondere dem außenpolitischen Kurs Adenauers kritisch gegenüber standen und daher trotz gewisser Bedenken gegen die Bayernpartei und die Sozialdemokratie Offenheit für eine Koalition mit der SPD zeigten. In der Bayern-FDP selbst gab es dagegen eine starke bürgerlich-wirtschaftsliberale Stömung, der auch der später zum Staatssekretär und Leiter der Staatskanzlei ernannte Albrecht Haas angehörte, die einer Viererkoalition unter Führung der Sozialdemokraten Vorbehalte entgegenbrachte. Eine gegenteilige Haltung nahmen die Bildungspolitiker der FDP ein, hier war es insbesondere die junge Liberale Hildegard Brücher, die schon während des Wahlkampfes unermüdlich für eine Reform der Bildungswesens eingetreten und mit größtem Nachdruck eine Koalition mit der SPD beworben hatte.

Als die CSU am 6. Dezember 1954 ihre Koalitionsentscheidung offiziell machte und eine Verhandlungskommission bestimmte, waren die Würfel zugunsten der Viererkoalition jedoch bereits gefallen. Am 5. Dezember hatte sich die FDP in einer gemeinsamen Sitzung von Landesausschuß und Landtagsfraktion zwar darauf festgelegt, grundsätzlich nach allen Seiten offene Koalitionsverhandlungen zu führen, der gleichzeitige Beschluß, die Reform der Lehrerbildung zur Grundlage jeglicher Verhandlungen zu machen, verwies de facto jedoch auf die SPD als Koalitionspartner. Zentral war allerdings Anfang Dezember 1954 die Rolle der Bayernpartei: Zwar hatte sich der BP-Vorsitzende Joseph Baumgartner, der die Fäden der Koalitionsverhandlungen für seine Partei allein in der Hand zu halten vermochte, nach den ersten Kontakten zur SPD am 30. November und 1./2. Dezember noch taktisch flexibel gezeigt und im Hintergrund mit Hans Ehard weiter über eine mögliche Verteilung von Ressorts und Regierungsposten gesprochen – die CSU war jedoch keinesfalls gewillt, der BP den geforderten stellvertretenden Ministerpräsidenten, zwei Ministerämter und zwei Staatssekretäre zuzugestehen; auch das von Baumgartner persönlich angestrebte Amt des Landwirtschaftsministers sollte in CSU-Hand bleiben.

Nachdem sich in der Folge zunächst der Landesausschuß der Bayernpartei am 6. Dezember für ein Zusammengehen mit der SPD ausgesprochen hatte, kam es in den späten Abendstunden des 6. Dezember zu einem laut der Erinnerungen Wilhelm Hoegners zu einem ebenso überraschend wie agentenreif arrangierten Geheimtreffen im Landessekretariat der SPD.44 Waldemar v. Knoeringen, Wilhelm Hoegner, Carljörg Lacherbauer und Joseph Baumgartner, der zu Protokollzwecken in Begleitung seiner Sekratärin erschien, schlossen eine Vereinbarung in der die Beteiligten versprachen, „einander mit allen Kräften an der Bildung einer neuen Bayerischen Regierung unter ihrer eigenen Beteiligung und unter Hereinnahme des BHE zusammenzuwirken“, ferner „mit der CSU keine Abmachung über die Bildung einer Regierung mit ihr zu treffen.“45 Auch wurde bereits die künftige Zusammensetzung des Kabinetts fest vereinbart: Die SPD sollte den Ministerpräsidenten, zwei weitere Minister und drei Staatssekretäre stellen, die BP den stellvertretenden Ministerpräsidenten, zwei Staatsminister und zwei Staatssekretäre, der BHE einen Minister und zwei Staatssekretäre, die FDP einen Minister und einen Staatssekretär.

Nachdem am 7. Dezember auch die Fraktion des GB/BHE – wahrscheinlich noch in Unkenntnis der Geheimvereinbarung der vorausgegangenen Nacht – sich zur einer Verhandlungsaufnahme mit SPD und BP entschlossen hatte, kam es am Abend desselben Tages noch zu ersten substantiellen gemeinsamen Gesprächen der vier Parteien, am Tag darauf folgte ein weiteres Koalitionsgespräch, in dem bereits das konkrete künftige Regierungsprogramm diskutiert wurde – auch wenn die FDP als einzige beteiligte Partei sich noch nicht endgültig zu einer Regierungsbeteiligung durchgerungen hatte. Die FDP befand sich immer noch in sachlich jedoch unergiebigen und letztendlich ergebnislosen Gesprächen mit der CSU. Der Stimmungsumschwung in der FDP war letztendlich wohl in dem Verzicht der SPD auf das Staatsministerium für Wirtschaft und Verkehr begründet. Auch Theodor Oberländer und Willi Guthsmuths als Repräsentanten des „Ministerflügels“ des GB/BHE unternahmen durch Kontaktaufnahme mit Hans Ehard noch ein letztes aber erfolgloses Störmanöver. Am 9. Dezember unterzeichneten dann auch die FDP und der GB/BHE wie zuvor die SPD und die BP die Erklärung, „mit allen Kräften zu versuchen, eine neue Bayerische Regierung unter Beteiligung ihrer eigenen Fraktionen zustande zu bringen.“46 Am darauffolgenden Tag, dem 10. Dezember 1954, stand die vierseitige Koalitionsvereinbarung der neuen Viererkoalition.

In zehn Oberpunkten mit insgesamt 46 Unterpunkten legten die vier Koalitionsparteien ihre politischen Interessensschwerpunkte in einem gemeinsamen Papier und als Leitfaden für die künftige Regierungsarbeit nieder.47 Unter Punkt I „Grundsätzliches“ erklärte die künftige Regierung es als ihre „Aufgabe, eine fortschrittliche, tolerante, soziale und volksverbundene Politik nach den Grundsätzen der christlich-abendländischen Kultur durchzuführen.“ Außerdem sei „Sparsamkeit auf allen Gebieten und eine saubere Verwaltung“ die „unbedingte Voraussetzung für ihre Arbeit.“ Mit dieser Vorrede hatten sich die Koalitionäre gewissermaßen auf einen allgemeinen politischen Nenner sozialdemokratischer und bürgerlicher Prinzipien geeinigt. Punkt II des Koalitionsvertrages – „Staatspolitische Forderungen“ – trug eindeutig die Handschrift des überzeugten Föderalisten und „weiß-blauen“ Sozialdemokraten Wilhelm Hoegner, in zweiter Linie auch die der Bayernpartei. Gefordert wurde hier das unbedingte „Festhalten am bundestaatlichen Charakter der Bundesrepublik“, die Verhinderung von Kompetenzverlagerungen von den Ländern hin zum Bund sowie generell die „Verhinderung jeder Benachteiligung Bayerns durch den Bund.“ Unter Punkt III – „Kulturpolitik“ – wurde zunächst das Bekenntnis zu einer toleranten und „loyale[n] Durchführung der Verfassungsbestimmungen über Schule und Erziehung“ formuliert, weiterhin auch die „Loyale Durchführung des Konkordates und der Kirchenverträge“, sodann – und zu den genannten beiden Punkten in gewissem Widerspruch stehend – wurde die „Lehrerbildung an Universitäten oder gleichwertigen wissenschaftlichen Hochschulen auf der Grundlage des Vorschlags der Arbeitsgemeinschaft der Bayerischen Lehrer- und Erzieherverbände“ angekündigt. Weitere kulturpolitische Ankündigungen betrafen unter anderem und eher allgemein Fragen der Schulreform und die Verbesserung des Schulorganisationsgesetzes, ferner die Stärkung der staatsbürgerlichen und demokratischen Erziehung, aber auch des „Heimatgedankens und des Kulturgutes der abgetrennten Ostgebiete“ in den Schulen, die Förderung der Erwachsenenbildung, die Einrichtung eines Landesschulbeirates sowie die Novellierung des Rundfunkgesetzes. Unter dem Punkt IV „Sozialpolitik“ wurde als erstes Hauptanliegen die „Zusammenfassung aller wesentlichen sozialpolitischen Aufgaben, die dem Staate Bayern zufallen, in einem Ministerium“ formuliert, im folgenden Punkt dann die „Verbesserung der Lebenshaltung der sozial schwachen Schichten unseres Volkes“ in Aussicht gestellt. Sechs der elf Forderungen unter dem Oberpunkt „Sozialpolitik“ betrafen dabei Angelegenheiten der Vertriebenen bzw. der Kriegsopfer: etwa die Fortführung des sozialen Wohnungsbaues, die innerbayerische Umsiedlung der Vertriebenen, die Auflösung der Flüchtlingslager, den fairen Flüchtlingsausgleich unter den Ländern, die Entschädigung der Kriegssachgeschädigten und Evakuierten oder die Sondervergünstigungen für Kriegsopfer in Bayern. Auch allgemeine Forderungen wie der Ausbau der Jugendpflege oder der Gesundheitsfürsorge fanden Eingang in das sozialpolitische Koalitionsprogramm. Der Punkt V der Koalitionsvereinbarung „Wirtschaft“ enthielt – wohl auf Drängen der FDP – das Bekenntnis zur „Aufrechterhaltung des Privateigentums“ ohne „unnötige Einmischung der öffentlichen Hand in die private Wirtschaft“: Weitere Punkte, die wirtschaftspolitisch jedoch alles andere als ein Novum waren, betrafen die „Fortsetzung der Industrialisierung Bayerns“ mit besonderem Augenmerk auf die Notstands- und Grenzlandgebiete, die Förderung von Handwerk, Mittelstand und Fremdenverkehr, dem Ausbau von Infrastruktur und Wasserkraft sowie die konkrete Inangriffnahme von Raumordnung und Landesplanung. Auch der Punkt VI der Vereinbarung, der die Landwirtschaft betraf, enthielt überwiegend allgemeine Absichtserklärungen. Postuliert wurde die „Förderung der Landwirtschaft als wichtige Grundlage der Volkswirtschaft“, sodann der Kampf gegen die Landflucht, staatliche Hilfsmaßnahmen zur Seßhaftmachung vertriebener Landwirte, die Förderung des landwirtschaftlichen Genossenschaftsgedankens und die beschleunigte Fortführung der Flurbereinigung. Eine konkrete politische Forderung war hier „Neuordnung der ‚Bayerischen Landessiedlung GmbH’.“ Unter der Überschrift „Verwaltung“ wurde in Punkt VII der Koalitionsvereinbarung das Projekt der Verwaltungsvereinfachung und der Zuständigkeitsverlagerung auf Mittel- und Unterbehörden sowie Sichtung, Sammlung und Bereinigung der bayerischen Rechtsvorschriften angekündigt. Punkt VIII betraf die Finanzpolitik, die Hauptankündigungen waren hier der Abbau des Haushaltsdefizits, die künftig rechtzeitige Vorlage der Haushaltspläne, eine strenge Ausgabendisziplin und der „Abbau überflüssiger Staatsaufgaben“. Auch sollten die Rolle und die Unabhängigkeit des Obersten Rechnungshofes gestärkt werden, und freiwerdende Investitionsmittel vorrangig der Landesentwicklung zugute kommen. Unter Punkt IX der Koalitionsvereinbarung wurde schließlich die „Bildung eines ständigen Koalitionsausschusses mit Sekretariat zur Behandlung aller innenpolitischen Fragen“ festgelegt. Erstmalig wurde somit ein Koordinationsgremium für die Koalitionsarbeit fest institutionalisiert. Zuletzt bestimmte Punkt X der Koalitionsvereinbarung einen Grundsatz zur Bundespolitik: „Der Mehrheitsbeschluß des Kabinetts bestimmt die Haltung der Bayerischen Staatsregierung im Bundesrat.“ In Anbetracht einiger zwischen den bayerischen Koalitionären durchaus vorhandener bundespolitischer Divergenzen sollte mit diesem Grundsatzbeschluß eine einheitliche, berechenbare Linie Bayerns im Bundesrat hergestellt bzw. eigenmächtiges Abstimmungsverhalten der bayerischen Vertreter im Bundesrat verhindert werden.

Die Koalitionsvereinbarung stellte – hier gewissermaßen genretypisch – einen allgemeinen und konsensfähigen Leitfaden für die künftige Regierungspolitik dar, nur punktuell eindeutig von parteipolitischen Positionen geprägt. Das Bekenntnis zum Föderalismus ging wohl auf Wilhelm Hoegner zurück, die Reform der Lehrerbildung auf die SPD und die FDP, die staatsbürgerliche Erziehung war bekanntermaßen ein persönliches Anliegen Waldemar v. Knoeringens,48 das sozialpolitische Augenmerk auf die Vertriebenen war auf den BHE zurückzuführen. Die sonstigen sozialpolitischen Programmpunkte, die geplanten Fördermaßnahmen für Wirtschaft und Landwirtschaft oder die Ankündigung einer strikten Haushaltsdisziplin waren in der Tat und überwiegend zeitgenössischer common sense.

Zusätzlich zu dieser Koalitionsvereinbarung unterzeichneten die vier Parteien ebenfalls am 10. Dezember 1954 noch ein weiteres, vertrauliches Zusatzprotokoll, welches in 20 Punkten und ohne erkennbare Systematik oder Prioritätenfolge weitere, konkrete Einzel- und Sonderwünsche der Koalitionspartner auflistete.49 Bemerkenswert ist hier insbesondere der in der Forschungsliteratur vielzitierte Punkt 1: „Die Bayernpartei erklärt, daß sie nicht daran denkt, einen wilden Bajuwarismus zu betreiben.“ Hier manifestierte sich das nach wie vor bestehende Mißtrauen gegen den in der Vergangenheit immer wieder hervorgetretenen erratischen Politikstil der Bayernpartei, und insbesondere sollten die mittlerweile eingespielte Arbeit des Bundesrates und das nicht zuletzt 1948/49 in den Grundgesetzberatungen von Bayern stark geprägte föderale System der jungen Bundesrepublik durch den extrem-föderalistischen Habitus einer kleinen bayerischen Koalitionspartei unter keinen Umständen beeinträchtigt werden. Weitere Punkte der Zusatzvereinbarung – folgend nicht vollständig, sondern nur in überblicksartiger Auswahl angeführt – waren die Forderung, daß sämtliche Landtagsfraktionen im Rundfunkrat vertreten sein müssen, sowie die umgehende Änderung des Rundfunkgesetzes. Dies war darauf zurückzuführen, daß die kleinen Parteien in Bayern sich in der Berichterstattung des Bayerischen Rundfunks als benachteiligt betrachteten. Übereinstimmend und „einmütig“ beschlossen die vier Parteien ferner, keine weiteren neuen Universitäten gründen zu wollen, agrarpolitisch sollten die Bodenreform, die Flurbereinigung und die Erbteilungsfrage in Angriff genommen werden, in der Staatskanzlei sollte eine besondere Stelle für die Behandlung von Bundesangelegeheiten entstehen. Weitere Punkte waren die „Förderung der slawischen Sprachen“, ein Volksbüchereigesetz, die Einschränkung von Dienstreisen oder die Einrichtung der Regierung von Niederbayern, die aus Überschüssen der Staatsbank finanziert werden sollte.

Die obige Schilderung der Koalitionsverhandlungen wie auch der Blick auf die Koalitionsvereinbarung und das Zusatzprotokoll zeigen, daß die Viererkoalition in Bayern in programmatischer wie politisch-weltanschaulicher Hinsicht in der Tat ein sehr heterogenes Gebilde darstellte, deren „einzige wirkliche Gemeinsamkeit […] in der Frontstellung gegenüber der CSU“ bestand.50 Ein nicht zu unterschätzender Einflußfaktor für das Zustandekommen der Koalition dürften die erheblichen personalpolitischen Konzessionen gewesen sein, die die SPD als größte Koalitionspartnerin bereit war zuzugestehen. Die Sozialdemokraten, die in der Landtagswahl 28,1% der Stimmen erhalten hatten und mit 61 gegenüber nur 60 Abgeordneten der anderen Koalitionsparteien im Landtag vertreten war, beanspruchte in der neuen Regierung für sich nur fünf von insgesamt 16 Kabinettsposten – neben dem Amt des Ministerpräsidenten noch zwei Minister- und zwei Staatssekretärsposten. In der Regierung war die SPD gegenüber der Bayernpartei mit 28 Parlamentssitzen, dem GB/BHE mit 19 und der FDP mit 13 Parlamentariern sichtlich unterrepräsentiert. Waren die ersten vorsichtigen Koalitionsgespräche zwischen der CSU und der Bayernpartei Anfang Dezember 1954 nicht zuletzt auch daran gescheitert, daß die CSU der BP keinesfalls die geforderten vier Kabinettsposten zugestehen wollte, so sah sich die Bayernpartei in der Viererkoalition diesbezüglich am Ziel. Auch die FDP wurde, indem sie das ursprünglich von der SPD beanspruchte Wirtschaftsministerium erhielt, zufriedengestellt.

Neben dem SPD-Ministerpräsidenten Wilhelm Hoegner waren weitere sozialdemokratische Kabinettsmitglieder der bisherige und neue Finanzminister Friedrich Zietsch und der neue Justizminister Fritz Koch. Der frühere Aschaffenburger Rechtsanwalt, Landgerichtspräsident, SPD-Stadtrat und seit 1947 Richter am Bayerischen Verfassungsgerichtshof war im Dezember 1950 zum Staatssekretär im Staatsministerium der Justiz ernannt worden. Staatssekretär im Staatsministerium der Innern wurde der frühere Pfaffenhofener Landrat und seit 1946 im Innenministerium – zuletzt seit 1951 als Ministerialdirigent – tätige Ernst Vetter, der als Vertrauter Hoegners galt.51 Der fünfte Sozialdemokrat war der erst im Jahre 1950 der SPD beigetretene Karl Weishäupl, der seit 1947 Landesgeschäftsführer des Verbandes der Kriegsbeschädigten, Kriegshinterbliebenen und Sozialrentner Deutschlands (VdK) gewesen war; Weishäupl wurde Staatssekretär im Staatsministerium für Arbeit und soziale Fürsorge.

Die Bayernpartei, mit einem Ergebnis von knapp 13% zwar als drittstärkste Partei aus den Landtagswahlen hervorgegangen, mit 28 Mandaten im Parlament aber noch nicht einmal halb so stark wie die SPD-Fraktion, bekam wie angestrebt vier Regierungsämter zugeschlagen. Der BP-Vorsitzende Joseph Baumgartner, Agrarwissenschaftler, ehemaliger Bauernvereinsfunktionär, Mitbegründer und Mitglied der CSU bis zu seinem Übertritt in die BP im Jahre 1948, wurde stellvertretender Ministerpräsident und erhielt erneut das persönlich angestrebte Amt des Landwirtschaftsministers, das er bereits von 1945 bis 1948 innegehabt hatte. Der zweite Staatsminister der Bayernpartei wurde der von 1924 bis 1952 als Justitiar und Mitglied der Direktion der Lechwerke in Augsburg tätig gewesene und seit 1952 als stellvertretender Landesvorsitzender der Bayernpartei amtierende August Geislhöringer. Als weitere BP-Vertreter wurden ernannt der Rechtsanwalt Joseph Panholzer zum Staatssekretär im Staatsministerium der Finanzen sowie Kurt Eilles – ebenfalls Rechtsanwalt – zum Staatssekretär im Staatsministerium der Justiz.

Der GB/BHE stellte mit dem früheren Kaufmann, Kitzinger Gemeinderat, seit 1950 Landtagsabgeordneten und im November 1953 zum Staatssekretär für die Angelegenheiten der Vertriebenen im Innenministerium berufenen Walter Stain den neuen Arbeitsminister, Willi Guthsmuths blieb weiterhin Staatssekretär im Staatsministerium für Wirtschaft und Verkehr. Den zweiten Staatssekretärsposten für die Vertriebenen erhielt im Landwirtschaftsministerium der Jurist Erich Simmel, früher Stadtrat und Zweiter Bürgermeister in Kronach, 1950 Mitbegründer des BHE und seit 1950 Abgeordneter des Bayerischen Landtags.

Die FDP als kleinster Koalitionspartner und mit 13 Sitzen im Landtag vertreten, erhielt wunschgemäß die Führung des Staatsministeriums für Wirtschaft und Verkehr. Der Jurist Otto Bezold, seit 1946 Landtagsabgeordneter und seit 1954 Senatspräsident beim Oberlandesgericht München, wurde Wirtschaftsminister. Ebenfalls der FDP fiel eine zentrale Position in der Staatskanzlei zu. Der Jurist und als Rechtsanwalt tätige Albrecht Haas, seit 1948 FDP-Bezirksvorsitzender in Mittelfranken und seit 1950 Abgeordneter im Bayerischen Landtag, wurde als Staatssekretär und Leiter der Staatskanzlei nun ebenfalls Kabinettsmitglied. Dies war ein Novum: Der vorherige Leiter der Staatskanzlei, Karl Schwend, hatte sein Amt im Rang eines Ministerialdirektors ausgeübt. Allerdings knüpfte die Regierung Hoegner II hier durchaus an eine gewisse Traditionslinie an. 1945/46 in der Regierung Schäffer war der Leiter der Staatskanzlei Anton Pfeiffer ebenfalls Staatssekretär, und in den Kabinetten Ehard I und Ehard II trug Pfeiffer als Staatskanzleileiter den Titel eines Staatsministers.

Einen Sonderfall stellte die personelle Besetzung des Staatsministeriums für Unterricht und Kultus dar, die nicht ohne Schwierigkeiten ablief. In der ersten Vorvereinbarung zwischen SPD und Bayernpartei vom 6./7. Dezember zur Koalitionsbildung war festgehalten, daß der „Staatsminister für Unterricht und Kultus und sein Staatssekretär […] einvernehmlich auf Vorschlag der BP“ bestellt werden.52 Unausgesprochen bedeutete dies, daß sowohl der Minister- wie der Staatssekretärsposten mit zwei parteilosen Personen besetzt werden sollten. Nachdem die Namen verschiedener Münchener Hochschullehrer als Vorschläge in der Öffentlichkeit kursiert waren, brachte Wilhelm Ebert den Vorsitzenden des Bayerischen Philologenverbandes, des damaligen Lehrstuhlinhabers für mittlere und neuere Gechichte an der Universität Würzburg und späteren Ordinarius für Bayerische Geschichte in München, Karl Bosl, als Bewerber ins Spiel. Dieser wurde jedoch von der Bayernpartei abgelehnt, da man bei Bosl – der einen Konkordatslehrstuhl innehatte – eine mangelnde Distanz zur katholischen Kirche vermutete.53 Die Kandidatensuche der Viererkoalition mündete in die Berufung des Architekten, Städteplaners und Rektors der Technischen Hochschule München, August Rucker, der – dies eine bemerkenswerte Randnotiz – erst kurz vor seiner Vereidigung als Kultusminister aus der CSU austrat. Staatssekretär im Kultusministerium wurde erneut der ebenfalls parteilose Hans Meinzolt, der bereits 1945/46 im Kabinett Hoegner I Kultusstaatssekretär gewesen war, dann weiterhin als Staatsrat im Kultusministerium arbeitete und als Präsident der Landessynode des Landeskirchenrates der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern in kulturpolitischen Fragen ein Brückenbauer zur protestantischen Kirche war.

Außen vor bei der Regierungsbildung blieb der eigentliche Initiator und Architekt der Viererkoalition, Waldemar von Knoeringen. Dieser, den Wilhelm Hoegner nicht nur für ministrabel, sondern auch als durchaus geeignet für das Amt des Ministerpräsidenten gehalten hatte, „weigerte sich wie immer, ein Staatsamt zu übernehmen.“54 Knoeringen, eher ein kreativer und gestalterischer Kopf denn ein Freund der politischen Verwaltungstätigkeit, bevorzugte weiterhin die Arbeit im Hintergrund und sollte die Fäden über den Koalitionsausschuß sowie über seinen sogenannten „Montagskreis“ – einer regelmäßigen Diskussionsrunde aus SPD-nahen Persönlichkeiten aus Politik, Publizistik, Kultur und Wissenschaft – in der Hand behalten.55

Mit Ministerpräsident Hoegner, Finanzminister Zietsch, dem neuen Justizminister Koch, dem neuen Arbeitsminister Stain sowie Staatssekretär Guthsmuths gehörten dem neuen Kabinett fünf Personen an, die bereits in den Vorjahren in der großen Koalition Regierungsämter innegehabt hatten. Mit dem stellvertretenden Ministerpräsidenten Baumgartner und Kulturstaatssekretär Meinzolt kamen zwei weitere Kabinettsmitglieder mit Regierungerfahrung aus früheren Jahren hinzu. Die übrigen neun Kabinettsmitglieder waren sämtlich Novizen, übrigens auch mit Blick auf ihre persönlichen Kenntnisse über die beziehungsweise ihre Vertrautheit mit der Staatsverwaltung: Fast ausschließlich handelte es sich um Juristen, teilweise mit kommunalpolitscher Vergangenheit oder mit Erfahrung als Landtagsabgeordnete, aber mit Ausnahme von Staatssekretär Vetter, der im Innenministerium tätig war, sowie dem Richter Otto Bezold aus der Justizverwaltung brachte keiner der neuen Minister und Staatssekretäre die „klassische“ Sozialisation aus der bayerischen Staatsverwaltung mit, die für die Angehörigen insbesondere der frühen bayerischen Nachkriegsregierungen charakteristisch gewesen war. Mit der Viererkoalition endete auch in Bayern zu einem guten Teil die Ära der „Beamten-Politiker“ – in aller Regel Prädikatsjuristen, verwaltungserfahren, nüchtern im politischen Stil –, als deren letzter idealtypischer Repräsentant wohl Hans Ehard gelten kann.

Wilhelm Hoegner wurde am 14. Dezember 1954 vom Bayerischen Landtag mit 112 von insgesamt 197 abgegebenen Stimmen zum neuen Ministerpräsidenten gewählt. 83 Stimmen wurden für den CSU-Kandidaten Hanns Seidel abgegeben, drei Stimmzettel enthielten keinen Namen. Im Anschluß fand die Vereidigung des neuen Kabinetts statt. Gescheitert waren somit auch die letzten verzweifelten Bestrebungen der CSU, die Viererkoalition noch zu verhindern: Nach Bekanntwerden der Koalitionsvereinbarung hatte die CSU noch bis zum Tage der Ministerpräsidentenwahl am 14. Dezember erfolglos versucht, mit personal- und kulturpolitischen Konzessionen vor allem an den GB/BHE, aber auch an die FDP, die neue Regierungsbildung in letzter Minute zu torpedieren.56

Auf der politischen Bühne und für die politische Kultur des Freistaates hatte der Auftakt der Viererkoalition umgehend erhebliche Konsequenzen. Zum ersten wurde der abgelaufene Landtagswahlkampf mit seinen kulturkämpferischen Elementen noch bis in die konstituierende Sitzung des neuen Landtags hineingetragen: Zwar schien mit dem Ausschluß der CSU von der Regierung deren kultur- und bildungspolitischer Konservativismus zunächst neutralisiert und insbesondere der Einfluß des Kreises um Alois Hundhammer und Georg Meixner – zumindest vorläufig – zurückgedrängt, die Viererkoalition aber wollte sprichwörtlich Nägel mit Köpfen machen: Der CSU-Vorschlag zur erneuten Nominierung Alois Hundhammers zum Landtagspräsidenten wurde abgelehnt, eine Wiederwahl Hundhammers schon im Vorfeld kategorisch ausgeschlossen. Auf Drängen Wilhelm Hoegners und Teilen der CSU stellte sich der abgewählte Ministerpräsident Hans Ehard für das Amt zur Verfügung, und wurde vom Bayerischen Landtag am 13. Dezember 1954 mit 157 von 170 gültigen Stimmen zu dessen neuem Präsidenten gewählt.

Zweitens hatte der neue und ungewohnte Platz auf den unbequemen Oppositionsbänken für die Parteientwicklung der CSU eine ebenso katharische wie katalytische Wirkung: Der CSU-Landesvorsitzende und bisherige Ministerpräsident Hans Ehard erklärte am 18. Dezember 1954 seinen Rücktritt von seinem Parteiamt. Die Verantwortung für das Scheitern der Koalitionsverhandlungen wurde Hans Ehard in ersten Reaktionen von Teilen seiner Partei persönlich angelastet; eine ungeschickte Verhandlungsführung und Ehards nur allzu bekannte Abneigung gegen die Bayernpartei hätten diese gleichermaßen in die offenen Arme der SPD getrieben.57 Diese zeitgenössische Interpretation hat später auch teilweise Eingang in die Forschung gefunden. Allerdings ist hier bei genauerer Betrachtung eher ein Parteiversagen denn ein persönliches Scheitern Ehards zu diagnostizieren. Wie oben beschrieben, hatte die CSU es versäumt, ihrem Parteivorsitzenden rechtzeitig ein umfassendes Verhandlungsmandat für eine Koalitionsbildung auszustellen, sie hatte ihre eigene Verhandlungsführung Anfang Dezember 1954 in politisch fahrlässiger Weise verschleppt und strategisch im Ungefähren gelassen und gleichzeitig mit einem ausgeprägten, ja rücksichtslosen politischen Selbstbewußtsein, das weithin als Arroganz und Dünkelhaftigkeit interpretiert werden mußte, ihre potentiellen Koalitionspartner verprellt.

Am 22. Januar 1955 wählte die außerordentliche Landesversammlung der CSU den früheren Wirtschaftsminister Hanns Seidel zum neuen Parteivorsitzenen, unterlegener Gegenkandidat war der Bundesminister für besondere Aufgaben und CSU-Landesgruppenchef im Bundestag, Franz-Josef Strauß. Mit diesem personellen Wechsel in der Parteiführung gewann in der CSU eine liberal-konservative, auch wirtschaftsorientierte und vor allem interkonfessionelle Orientierung die Oberhand, die konservativ und katholisch geprägte Richtung mit ihrem traditionellen und primären Fokus auf der Kulturpolitik verlor rasch an Boden.58 Dies, so ist zu betonen, wäre übrigens ebenso im Falle der Wahl von Franz-Josef Strauß zum Parteichef eingetreten. Auch dieser wußte mit dem Klerikalismus der Konservativen in der CSU wenig anzufangen und hielt deren Faible für konfessionelle Randthemen im Grunde für parteischädigend, ja „selbstmörderisch“.59 Die in der Vergangenheit erbittert ausgefochtenen Flügelkämpfe in der CSU, die die Partei wiederholt an den Rand der Spaltung gebracht hatten, sollten somit ab 1955 ihr Ende finden. Wichtiger noch als die personelle Umbesetzung und Verjüngung der Parteispitze war in der Folge der organisatorische Erneuerungs- und Modernisierungsprozeß der CSU, der während ihrer Oppositionszeit zwischen 1954 und 1957 konsequent und mit Erfolg auf den Weg gebracht wurde. Mit der Berufung eines Hauptgeschäftsführers – bzw. ab 1956: Generalsekretärs –, des jungen CSU-Nachwuchspolitikers Friedrich Zimmermann, der flächendeckenden Einrichtung von Parteigeschäftsstellen sowie der Sanierung der Parteifinanzen wandelte sich die CSU von einer Honoratiorenpartei zu einer „Massen- und Apparat-Partei modernen Typs“.60 Diese grundsätzliche organisatorische wie auch programmatische Reform der CSU, die durch die neue Oppositionserfahrung angestoßen wurde, war zwar nicht der einzige, aber ein doch höchst bedeutsamer politischer Faktor, der die ab 1957 dann durchgehende Regierungsverantwortung der CSU mitbegründen sollte.

Drittens und zuletzt schließlich führte die Bildung der Regierung Hoegner II zu einem im Vergleich zur Zeit der großen Koalition markant veränderten politischen Klima im Freistaat. Das Zustandekommen der Viererkoalition wurde allgemein und über die Grenzen Bayerns hinaus als Sensation – im positiven wie im negativen Sinne – wahrgenommen.61 Die durch den Koalitionsabschluß der vier kleineren Landtagsparteien überrumpelte CSU schwankte zwischen Fassungslosigkeit, politischer Ohnmacht und publizistischem Furor – man glaubte an einen Treppenwitz der Geschichte, man sah eine eklatante Mißachtung des Wählerwillens und sprach der Viererkoalition im Grunde jegliche demokratische Legitimation ab, und das Unverständnis für die Zusammenarbeit von vier so ungleichen Partnern offenbarte sich in dem berühmt gewordenen Diktum von Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard, der die Koalition als „an widernatürliche Unzucht grenzend“ bezeichnete.62 Daß eine solche Einschätzung von Bonn aus geäußert wurde, verweist auch auf die bundespolitische Dimension der bayerischen Landtagswahl 1954: Durch den Regierungswechsel in Bayern verlor die Bundesregierung in Bonn den Rückhalt der bürgerlichen Mehrheit im Bundesrat.

Die oppositionelle CSU und die mit ihr verbundenen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kirchlichen Kreise gewährten der neuen Regierung keine Schonzeit. Unmittelbar nach dem Jahreswechsel 1954/55 setzte auf der parlamentarischen Ebene im Bayerischen Landtag, in der Presse und auch über den Rundfunk die politische Auseinandersetzung mit der Regierungskoalition ein. Das Ausmaß wie die Qualität dieser Kritik und dieser Angriffe unterschied sich – dies wird Gegenstand der Darstellung der folgenen Teilkapitel – dabei deutlich vom Gewohnten des politischen Tagesgeschäfts unter den bayerischen Vorgängerregierungen.

III.Schwerpunkte der Regierungstätigkeit

1.Bundespolitik, Bundesratsangelegenheiten, Neugliederungsfrage

Wie oben bereits angeführt, nahm die Bundespolitik in den Beratungen der Ministerratssitzungen des Jahres 1955 einen nicht unerheblichen Teil ein. Die Behandlung der „Bundesratsangelegenheiten“ wuchs quantitativ weiter erheblich an.63 Dieser Anstieg ging jedoch hauptsächlich zurück auf die hohe Anzahl von Änderungs- und Verlängerungsgesetzen oder Durchführungsverordnungen, während gleichzeitig die Zahl der „großen“ Gesetzesvorhaben des Bundes tatsächlich überschaubar blieb. Das zentrale und alles überwölbende bundespolitische Ereignis des Jahres 1955 war ein außenpolitisches: Der Abschluß der Pariser Verträge und deren Ratifizierung am 5. Mai 1955 mit der hieraus resultierenden Aufhebung des Besatzungsstatuts, der Wiedergewinnung der Teilsouveränität der Bundesrepublik Deutschland sowie dem Aufbau der Bundeswehr und deren Integration in die NATO. Diese Entwicklungen stellten nicht nur eine außenpolitische Zäsur dar, sondern hatten mittelbar wie unmittelbar auch starke Auswirkungen auf die bayerische Landespolitik, insbesondere mit Blick auf die für die bayerische Politik der Nachkriegszeit stets wichtige Frage der Neugliederung der Ländergrenzen im Nordwesten und Südwesten des Freistaates. Bundes- und Landespolitik lassen sich in ihren gegenseitigen Einflußbedingungen im Regierungsjahr 1955 nicht immer scharf voneinander trennen.

Aus der Geamtheit der Pariser Verträge, die aus insgesamt elf Verträgen und Abkommen bestanden, fanden nur vier Teilkomplexe Eingang in die Beratungen des Ministerrates: Das Gesetz betreffend das Protokoll vom 23. Oktober 1954 über die Beendigung des Besatzungsregimes in der Bundesrepublik Deutschland, das Gesetz betreffend den Vertrag vom 23. Oktober 1954 über den Aufenthalt ausländischer Streitkräfte in der Bundesrepublik Deutschland, das Gesetz betreffend den Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zum Brüsseler Vertrag und zum Nordatlantikvertrag sowie schließlich das Gesetz betreffend das am 23. Oktober 1954 in Paris unterzeichnete Abkommen über das Statut der Saar.64 Nur für das erste der vier genannten Ratifizierungsgesetze, das das Abkommen über die Souveränitätsrechte der Bundesrepublik vom 23. Oktober 1954 – in weiten Teilen eine revidierte Fassung des Ende August 1954 in der französischen Nationalversammlung gescheiterten Deutschland-Vertrages – betraf, war dabei nach übereinstimmender Auffassung der Bundesregierung und der Länder die Zustimmung des Bundesrates erforderlich. Die ersten drei genannten Gesetze fanden die Zustimmung des Ministerrats, nur das Gesetz über das Saar-Statut erfuhr Ablehnung und sollte an den Vermittlungsausschuß überwiesen werden. Diesem Ansinnen, das auch von Hessen, Niedersachsen und Bremen unterstützt wurde, folgte der Bundesrat in der entscheidenden Sitzung vom 18. März 1955 jedoch nicht mehrheitlich. Das bayerische Kabinett folgte mit seiner Haltung hier den Kritikern von Bundeskanzler Adenauer, der im Sinne der deutsch-französischen Verständigung einem gesonderten europäischen Status des Saargebietes zugestimmt hatte. Dies wurde in weiten Teilen der Öffentlichkeit, und insbesondere in der westdeutschen SPD, als eine unzulässige territoriale Verzichtserklärung sowie als negatives Präjudiz für eine künftige Wiedervereinigung Deutschlands gewertet. Das Saar-Statut wurde allerdings in einer Volksabstimmung vom 23. Oktober 1955 von den Saarländern abgelehnt und das Saarland dann zum 1. Januar 1957 in die Bundesrepublik eingegliedert.

Grundsätzlich gegen die Pariser Verträge argumentierte im Ministerrat vom 15. März 1955 Staatssekretär Panholzer: Er halte das Vertragswerk für „sinn- und zwecklos“, die „Wiederbewaffnung bedeute eine Verschärfung der Lage auf dem Kontinent“, zu befürchten sei, „daß sich die Verträge besonders für Bayern verhängnisvoll auswirkten und daß sie der Anfang vom Ende der Demokratie werden könnten“, letztlich: „daß mit diesem Vertrag für Deutschland und Bayern ein sehr schweres Schicksal hereinbreche.“ Ministerpräsident Hoegner pflichtete hier hinsichtlich der großen Bedeutung und Konsequenzen des Pariser Vertragswerkes bei, verwies aber auf die vollendeten außenpolitischen Tatsachen und erklärte es zur „Aufgabe der Bayerischen Regierung“ die Auswirkungen der Pariser Verträge „abzuschwächen, soweit es in ihren Kräften stehe.“

Zentral wurden hinsichtlich dieser „Auswirkungen“ für den Ministerrat in der Folge des Pariser Verträge die Frage des Aufbaus der Bundeswehr und die Wehrgesetzgebung. Nach den langen und harten innenpolitischen Auseinandersetzungen um die Wiederbewaffnung, die mit Blick auf die deutsche Vergangenheit und insbesondere auf die Auswirkungen auf eine künftige Wiedervereinigung Deutschlands vor allem von der SPD kategorisch abgelehnt worden war, ging es für die Bundesregierung nunmehr um die zügige, z.T. sehr eilige Gestaltung des deutschen Wehrbeitrags im Detail. Mit dem Gesetz über die vorläufige Rechtsstellung der Freiwilligen in den Streitkräften, dem sogenannten Freiwilligen-Gesetz vom 23. Juli 1955 sollte der personelle Aufbau der Streitkräfte durch die Rekrutierung von Freiwilligen für Ausbildungs- und Führungsaufgaben eröffnet werden.65 Dieses Freiwilligen-Gesetz war von Anbeginn an nur als provisorische Übergangslösung gedacht und wurde durch das Gesetz über die Rechtsstellung der Soldaten (Soldatengesetz) vom 19. März 1956 als endgültige Rechtsgrundlage für die Begründung der Dienstverhältnisse der Berufssoldaten und der Soldaten auf Zeit ersetzt.66 Ein weiteres Element der Wehrgesetzgebung war das Gesetz über den Personalgutachterausschuß für die Streitkräfte vom 23. Juli 1955.67 Es handelte sich hierbei um einen interfraktionellen Gesetzentwurf des Bundestages; durch das Gesetz sollte gewährleistet werden, daß die Einstellung insbesondere der künftigen Führungskader der Bundeswehr erst nach Überprüfung von deren persönlicher Eignung durch einen unabhängigen Ausschuß erfolgen würde. Ebenfalls den personellen Aufbau der Streitkräfte betraf das Gesetz über den Einfluß von Eignungsübungen der Streitkräfte auf Vertragsverhältnisse der Arbeitnehmer und Handelsvertreter sowie auf Beamtenverhältnisse vom 20. Januar 1956,68 das arbeits- und versicherungsrechtliche Aspekte der zukünftigen Freiwilligen regelte.

Während diese angeführten Wehrgesetze im Ministerrat wenig umstritten waren, stellte sich die Lage in der Frage der Wehrpflicht anders dar. Das spätere Wehrpflichtgesetz vom 21. Juli 1956 wurde erstmalig im Ministerrat vom 6. Dezember 1955 auf Grundlage eines Vorentwurfs – der Regierungsentwurf aus dem Bundesverteidigungsministerium sollte erst Ende Januar 1956 offiziell vorgelegt werden – beraten.69 Die bis zum Abschluß des Gesetzgebungsverfahrens aufrecht erhaltene Ablehnung und Kritik der Staatsregierung an dem Wehrpflichtgesetz beruhte auf zwei Aspekten. Erstens war Ministerpräsident Hoegner persönlich gegen eine Wehrpflicht eingestellt. Generell tendierte die SPD zum Aufbau einer Berufsarmee, die in Zeiten moderner Kriegsführung als zweckmäßiger angesehen wurde, Wilhelm Hoegner aber bedauerte insbesondere, basierend auf seiner im früheren Exil gewonnenen Erfahrung mit dem politischen System der Schweiz, daß der Vorschlag eines Miliz-Systems anstelle einer Wehrpflicht nicht weiter geprüft und verfolgt worden sei;70 in Anbetracht der Verpflichtung der Bundesrepublik zur Aufstellung eines Heeres in 500.000-Mann-Stärke jedoch wurden solche Vorschläge von Seiten der Verteidigungsexperten des Bundes von vornherein als inpraktikabel und wirklichkeitsfern verworfen.

Weiterhin und zweitens war für die Staatsregierung bei der Frage der Wehrpflicht auch der Grundgedanke des Föderalismus zentral: Mit der Einführung der Wehrpflicht und der daraus notwendig resultierenden Errichtung einer Wehrersatzverwaltung sah man die Gefahr von grundgesetzwidrigen Verwaltungsbefugnissen von Bundesbehörden in den Ländern heraufziehen. Die vorgesehene Errichtung von Wehrersatzbehörden als bundeseigene Mittel- und Unterbehörden sei nach bayerischer Auffassung nicht durch den Art. 87 Abs. 3 des Grundgesetzes gedeckt. Der Ministerrat vertrat die Position, daß das Wehrersatzwesen – dessen Aufgaben u.a. die Erfassung und die Musterung der Wehrpflichtigen, deren Verteilung, die Wehrüberwachung oder die Mobilisierugsvorbereitung waren – grundsätzlich und so weit wie möglich in eigener Zuständigkeit der Länder durchgeführt werden müsse.

Die Diskussion um den Aufbau und die Organisation der Bundeswehr hatte im Ministerrat auch Einfluß auf andere sicherheitspolitische oder polizeiliche Aspekte. So lehnte das Kabinett etwa den von der Bundesregieung vorgelegten Entwurf eines Zweiten Gesetzes über den Bundesgrenzschutz mit dem Argument ab, daß der 1951 gegründete Bundesgrenzschutz durch eine westdeutsche Armee nunmehr obsolet geworden sei.71 Während die Bundesregierung den Bundesgrenzschutz als Institution weiter bestehen lassen wollte, pochte Ministerpräsident Hoegner – im Wissen um die Unterstützung anderer Länder im Bundesrat – darauf, daß neben der Armee keine weitere Polizeiorganisation des Bundes bestehen dürfe; die bisherigen Aufgaben des Bundesgrenzschutzes könnten von der bayerischen Grenz- und Bereitschaftspolizei übernommen werden. Die Zukunft der bayerischen Bereitschaftspolizei war ferner durch die westdeutsche Wiederbewaffnung auch insofern berührt, als von Seiten des Bundes Bestrebungen im Gange waren, Angehörige der Bereitschaftspolizei für die Bundeswehr abzuwerben.72 Da somit aus Sicht von Ministerpräsident Hoegner die akute Gefahr bestand, daß die fähigsten Beamten den bayerischen Polizeidienst verlassen könnten, wurde hier eine Absprache mit den anderen Ländern und ein Abkommen mit dem Bund vorgeschlagen, um solche Übertritte zu verhindern.

Im weiteren Sinne zum Themenkreis der Wehrgesetzgebung gehörten auch der Zivil- und Luftschutz – das Erste Gesetz über Maßnahmen zum Schutz der Zivilbevölkerung trat 1957 in Kraft73 – oder die Landbeschaffung für die Streitkräfte. Hier mußten zum einen US-amerikanische Ansprüche erfüllt werden – konkret ging es um die Erweiterung von bayerischen Flugplätzen für militärische Zwecke –,74 zum anderen wurde für die Bedürfnisse der deutschen Streitkräfte von der Bundesregierung das spätere Landbeschaffungsgesetz vom 23. Februar 1957 auf den Weg gebracht.75 Wenn auch in den Ministerratsprotokollen des Jahres 1955 weiterhin eine Grundskepsis gegenüber der Wiederbewaffnung im Allgemeinen wie auch gegen die Details der Aufbaupläne für die Bundeswehr und die Wehrgesetzgebung im Besonderen faßbar bleibt, so beugte man sich doch den in Bonn geschaffenen außen- und verteidigungspolitischen Fakten. Zentral für Ministerpräsident Hoegner war letztendlich der demokratische Charakter der zukünftigen Streitkräfte, die staatsbürgerliche Erziehung der Soldaten sowie – aus föderalistischen Prinzipien heraus gefordert – die landsmannschaftliche Zusammensetzung des Offizierskorps und ein Mitwirkungsrecht der Länder bei der Auswahl der militärischen Führungskader. Durchaus bemerkenswert erscheint auch der Grad der gegeseitigen Bemühungen um eine verteidigungspolitische Abstimmung zwischen München und Bonn. Zweimal, im März und im November, besuchte Theodor Blank, Beauftragter des Bundeskanzlers für Sicherheitsfragen, dann ab Juni 1955 Bundesverteidigungsminister, die Landeshauptstadt zu persönlichen Informationsgesprächen.76 Bei aller Skepsis gegenüber der Wiederbewaffnung war sich die Staatsregierung auch der ökonomischen und strukturellen Bedeutung des Bundeswehr-Aufbaus bewußt, insbesondere was die – mittelfristig: positiven – Perspektiven und Chancen der Stationierung von Truppenteilen und die Errichtung von Garnisonen in Bayern betraf.77 Zur Koordinierung und zentralen Behandlungen aller wehrpolitischen Fragen wurde daher in der Staatskanzlei ein gesondertes Referat für Wehrfragen eingerichtet,78 und nicht zuletzt bewirkte im Jahre darauf der Wechsel an der Spitze des Bundesverteidigungsmiunisteriums, als im Oktober 1956 der CSU-Politiker Franz-Josef Strauß Bundesminister für Verteidigung wurde, durch eine trotz unterscheidlicher Parteizugehörigkeit enge Zusammenarbeit zwischen München und Bonn eine gewandelte, positive Einstellung der Staatsregierung zum Aufbau der Bundeswehr.

Für die politische Agenda des Freistaates hatte der Abschluß der Pariser Verträge neben der Wiederaufrüstung und der Wehrfrage noch eine weitere, sehr zentrale Folge, die in ihrer Virulenz so tatsächlich nur in Bayern in Erscheinung trat und in der Sache an der Schnittstelle zwischen Bundes- und Landespolitik oszillierte. Es handelte sich hierbei um die Frage der Neugliederung des Bundesgebietes und einer Revision der Ländergrenzen. Mit dem Ende des Besatzungsstatuts und der wiedererlangten Teilsouveränität der Bundesrepublik waren auch verschiedene alliierte Rechtsvorbehalte weggefallen. Höchste Relevanz für die Staatsregierung besaß in diesem Zusammenhang die Aufhebung der Suspendierung des Art. 29 des Grundgesetzes. Dieser Artikel, nach dem das Bundesgbiet – unter der Voraussetzung eines erfolgreichen Volksentscheides in den betroffenen Gebieten – „unter Berücksichtigung der landsmannschaftlichen Verbundenheit, der geschichtlichen und kulturellen Zusammenhänge, der wirtschaftlichen Zweckmäßigkeit und des sozialen Gefüges durch Bundesgesetz neu zu gliedern“ sei, um Länder zu „schaffen, die nach Größe und Leistungsfähigkeit die ihnen obliegenden Aufgaben wirksam erfüllen können“, war in dem Genehmigungsschreiben der Militärgouverneure zum Grundgesetz vom 12. Mai 1949 unter Vorbehalt gestellt und ausgesetzt worden.

Die neue Staatsregierung zögerte nicht und leitete umgehend und bereits Monate vor Inkrafttreten der Pariser Verträge erste Schritte ein, um nun die seit dem Kriegsende angestrebte endgültige Rückgliederung der Pfalz und Lindaus an Bayern umzusetzen. Die linksrheinische Pfalz und die kleine Enklave am Bodensee, der „Landkreis-Staat“ Lindau, waren die einzigen nenneswerten territorialen Verluste gewesen, die der Freistaat 1945 hatte hinnehmen müssen.

Schon im Ministerrat am 1. Februar 1955 informierte der Pfalz-Referent der Staatskanzlei, Ministerialdirigent Fritz Baer, das Kabinett in einem umfassenden historischen Überblicksvortrag über die Pfalzfrage und die politischen, kulturellen und ökonomischen Verbindungen zwischen Bayern und der Pfalz.79 In der weiteren Diskussion und der Erörterung des weiteren Procederes in der Wiederangliederungsfrage – „eine staatspolitische Aufgabe ersten Ranges“, so Baer – wurden einige markante Positionen der Staatsregierung deutlich: Die Abtrennung der Pfalz vom rechtsrheinischen Bayern, so Baer, sei ein Willkürakt, „Unrecht“ und ein „Diktat der Besatzungsmächte“ gewesen, das neue Land Rheinland-Pfalz sei ein „Gebilde ohne Tradition“, ein – wie Ministerpräsident Hoegner ergänzend ausführte – auf französische Initiative hin gegründeter „Pufferstaat“, „ein künstliches Gebilde, das sich bis heute noch nicht zusammengelebt habe.“ Staatssekretär Haas hielt den Anschluß der Pfalz ebefalls für „eine auch politisch sehr erfreuliche Angelegenheit“ und sprach dem Land Rheinland-Pfalz das Existenzrecht ab: „Für Bayern spreche eindeutig die unhaltbare Situation des Landes Rheinland-Pfalz, eines Staates, der in dieser Form nicht bestehen bleiben könne.“ Nach einer Neugliederung des Bundesgebiets, in deren Zuge Rheinland-Pfalz auch den Kreis Montabaur und rheinhessische Gebiete würde abgeben müssen, werde kein lebensfähiges Land mehr übrig bleiben. Auch Staatssekretär Eilles attestierte dem Land Rheinland-Pfalz, „noch kein festgefügtes staatliches Gebilde“ zu sein. Nur Finanzminister Zietsch verwies kritisch auf die hohen Kosten der bayerischen Pfalz-Bestrebungen und mahnte eine Rücksichtnahme auf die Gefühle der rheinland-pfälzischen Regierung an. Man könne sich auf bayerischer Seite nicht – berechtigterweise – gegen eine Abtretung etwa von Aschaffenburg oder Neu-Ulm stellen, gleichzeitig aber offensiv rheinland-pfälzisches Staatsgebiet beanspruchen.

Der Ministerrat beschloß, die politische Werbung für die Rückkehr der Pfalz zu intensivieren und insbesondere über den Bundesrat den Gesetzgebungsprozeß für das eine Rückgliederung der Pfalz notwendige Gesetz über Volksbegehren und Volksentscheid bei Neugliederung des Bundesgebiets nach Artikel 29 Abs. 2 bis 6 des Grundgesetzes80 voranzutreiben, das am 23. Dezember 1955 in Kraft trat. Diese bayerischen Bestrebungen stießen im Verlauf des Jahres 1955 jedoch auf einige Hindernisse: Zum einen erschien 1955 das sogenannte Luther-Gutachten des vom früheren Reichskanzler Hans Luther geführten Sachverständigenausschusses zur Neugliederung des Bundesgebietes. Diesem Gutachten blieb in der Folge zwar jegliche praktische und politische Bedeutung versagt, vor dessen Veröffentlichung sorgte es in Bayern hinsichtlich möglicher Empfehlungen und konkreter Vorschläge jedoch für eine gewisse Unsicherheit. Zweitens war aus den rheinland-pfälzischen Landtagswahlen vom 15. Mai 1955 der alte und neue Ministerpräsident Peter Altmeier von der CDU gestärkt hervorgegangen.81 Altmeier war den bayerischen Ansprüchen auf die Pfalz stets entschieden entgegengetreten, so daß seine Wiederwahl, so Ministerpräsident Hoegner, „im Hinblick auf die bayerischen Wünsche bezüglich der Pfalz natürlich nicht günstig sei.“ Drittens schließlich fand sich die Staatsregierung in der Neugliederungsfrage unter den Ländern sehr isoliert. Rückgliederungsprojekte und politische Grenzverschiebungen rangierten auf der Prioritätenskala der Ländermehrheit ganz weit hinten: Am 24. Juni 1955 hatte der Bundesrat auf Vorschlag Hamburgs hin eine Empfehlung beschlossen, eine Neugliederung des Bundesgebietes grundsätzlich bis zu einer deutsch-deutschen Wiedervereinigung aufzuschieben – was bayerischerseits als höchst unfreundlicher Akt interpretiert wurde.82

Bei aller Vehemenz freilich, mit der die Staatskanzlei die Rückkehr der Pfalz propagierte, gab es durchaus auch Zweifel an den Erfolgsaussichten. Man ging davon aus, daß rund die Hälfte der Pfäzer Wahlberechtigten für eine Wiederangliederung an Bayern votieren würden. Daher beschloß die Staatsregierung im Dezember 1955, als die Verkündigung des Gesetzes über Volksbegehren und Volksentscheid bei Neugliederung des Bundesgebiets absehbar wurde, durch die Ankündigung eines umfassenden Maßnahmenpakets die Stimmung in der Pfalz vor dem anvisierten Volksbegehren zu ihren Gunsten zu drehen.83 In Aussicht gestellt wurde den Pfälzern im Falle einer Rückgliederung unter anderem die Errichtung eines besonderen Pfalzministeriums, die ausschließliche Ernennung eines Pfälzer Kandidaten zum Regierungspräsidenten, der Erhalt der Pfälzer Behörden und Gerichte und die Übernahme aller Staatsbediensteten, die Verlegung von Landeszentralbehörden in die Pfalz, die bevorzugte Berücksichtigung der Pfälzer Wirtschaft bei der Vergabe öffentlicher Aufträge sowie schließlich die Zusicherung, daß die in der Pfalz aufkommenden Steuern dort verbleiben sollten. Nur dieser letzte Punkt war im Kabinett umstritten, mit Blick auf die Wirtschaftskraft der Pfalz sei eine solche Sonderbehandlung überflüssig und nicht vermittelbar.84

Bekanntermaßen mündete die jahrelange aktive und unter Einsatz erheblicher Ressourcen verfolgte Pfalzpolitik aller bayerischen Staatsregierungen seit 1945 in einen Mißerfolg. Das im April 1956 unter dem Schlagwort „Bayern ruft die Pfalz“ abgehaltene Volksbegehren scheiterte deutlich an der erforderlichen 10%-Quote zur Durchführung eines Volksentscheids; nur 7,6% der Pfälzer Stimmberechtigten votierten in dem Volksbegehren für die Wiederangliederung an den Freistaat. Rund zehn Jahre nach Gründung der westdeutschen Länder und nach sieben Jahren bundesrepublikanischer Stabilitätserfahrung war die öffentliche Neigung zu staatspolitischen Änderungen offensichtlich nur gering. Die von den bayerischen Staatsregierungen stets beschworenen gemeinsamen Traditionslinien hatten trotz der aktiven und regen bayerischen „Erinnerungspolitik“ in der Pfalz an Anziehungskraft verloren. Insbesondere die jüngere Generation hatte kaum mehr einen Bezug zu Bayern, eine irgendwie geartete Identifikation mit dem Land Bayern war nicht mehr gegeben. Darüber hinaus war der Mehrheit der Pfälzer Wahlbevölkerung wohl auch klar, daß eine Rückkehr zu Bayern keinerlei ökonomische Vorteile bieten würde.

Reibungsloser verlief hingegen im Jahre 1955 die nach Aufhebung der alliierten Besatzungsvorgaben möglich gewordene endgültige Rückgliederung Lindaus an den Freistaat ab. Der „Landkreis-Staat“ Lindau am Bodensee mit seinem eigentümlichen territorialen und politischen Sonderstatus war rechtlich mit Bayern bereits stark verwoben, die Rückgliederung bereits sukzessive durch zahlreiche Rechtsangleichungen vorbereitet worden.85 Nachdem die Rückgliederung erstmalig bereits im Ministerrat vom 10. Mai Gegenstand der Beratung war,86 wurde bereits am 23. Juli 1955 das Gesetz über den Bayerischen Kreis Lindau erlassen; Lindau wurde zum 1. September 1955 wieder eingegliedert.87

Mit Blick auf die Bundespolitik und die Bundesangelegenheiten läßt sich im Regierungsjahr 1955 eine durchaus neue und markante Verschiebung der politischen Konfliktlinien beobachten. Es kam zu einem gewissen Bedeutungsverlust der „klassischen“ föderalistischen bayerischen Politik, wie sie seit 1945 konsequent verfolgt worden und ab 1949 mit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes prägend für die Amtszeit von Ministerpräsident Hans Ehard, für das bayerische Verhältinis zum Bund und die Rolle Bayerns im Bundesrat gewesen war. In den ersten Jahren nach Gründung der Bundesrepublik besaßen die föderalistischen Prinzipen für die Staatsregierung höchste Priorität, auch kleine oder – vermeintlich – sachlich sehr nebensächliche legislative Projekte der Bundesregierung waren stets penibelst auf ihre Kompatibilität mit den Bestimungen des Grundgesetzes betreffend das Bund-Länder-Verhältnis abgeklopft worden. Zwar stand Wilhelm Hoegner seinem Vorgänger im Ministerpräsidentenamt, was die föderalistische Grundüberzeugung betraf, in nichts nach, und auch in der Koalitionsvereinbarung vom 10. Dezember 1954 waren der Föderalismusgedanke und der Schutz bayerischer Interessen ja nochmals sehr engagiert, fast kämpferisch betont worden. Aber wie weiter oben bereits beschrieben, traten hier deutliche Veränderungen ein. Bei einem steten quantitativen Zuwachs der Bundesratsangelegenheiten nahm ab Mitte der 1950er Jahre die politische Relevanz der legislativen Einzelvorhaben spürbar ab, die schiere Anzahl der Bundesratsangelegenheiten stellte, wie ebenfalls bereits erwähnt, streckenweise eine Überforderung des Bundesrates dar, und schließlich hatte sich im politischen Tagesgeschäft der immer noch jungen Bundesrepublik mittlerweile eine gewisse legislative Routine eingestellt. Insbesondere die Arbeitsabläufe des Bundestages ab dessen zweiter Legislaturperiode, z.T. auch der politische Bedeutungszuwachs der Arbeit der Fraktionen im Deutschen Bundestag, führte zu einem langsam einsetzenden gewissen Relevanzverlust des Bundesrates. Die Auseinandersetzungen zwischen dem Bund und dem Freistaat verlagerten sich z.T. auch auf Nebenschauplätze, wie beispielsweise die Frage der Ernennung eines neuen Präsidenten des Landesarbeitsamtes Südbayern88 oder die bayerischen Bestrebungen zur Wiedererrichtung der Oberpostdirektion in Augsburg.89

Pointiert und überspitzt kann bis hierher zusammenfassend formuliert werden: Im Jahre 1955 schien in den Ministerratsprotokollen eine der wichtigsten föderalen Streitfragen die Neubeschilderung der westdeutschen Kraftfahrzeuge zu sein.90 Bemerkenswert viel Energie steckten das Wirtschaftsministerium und Ministerpräsident Hoegner in ihre Anstrengungen, die diesbezüglichen Pläne des Bundesverkehrsministeriums im Bundesrat zu stoppen und eine KfZ-Kennzeichnung mit Länderbezeihnungen durchzusetzen – als Sinnbild für das föderalistische Prinzip. Der bundesstaatliche Charakter Westdeutschlands müsse, so die bayerische Auffassung, unbedingt auch auf den Nummernschildern zum Ausdruck kommen; man strebte daher die Rückkehr zur Kraftfahrzeugkennzeichnung von vor 1945 an.

Erneut als wichtige Bundesratsangelegenheiten fanden sich auf der Tagesordnung des Ministerrats drei Gestzesvorhaben zur Finanzreform.91 Schon im Vorjahr waren das Finanzverfassungsgesetz, das Finanzanpassungsgesetz sowie das Länderfinanzausgleichsgesetz auf den Weg gebracht worden. Mit dem letzteren sollte der jährlich neu ausgehandelte Finanzausgleich unter den Ländern dauerhaft gesetztlich geregelt werden, das Finanzanpassungsgesetz sollte gesetztliche Bestimmungen dahingehend festschreiben, wie Bund und Länder die zur Ausführung ihrer genau umschriebenen Aufgaben – etwa auf dem Gebiet der Finanzverwaltung, des Lastenausgleichs oder der Kriegsfolgelasten – jeweils die Kosten tragen sollten. Das Finanzverfassungsgesetz war das größte wie umstrittenste Teilgesetz zur Finanzreform. Durch das Gesetz sollte die Verteilung der in Art. 106 GG aufgeführten Zölle und Steuern zwischen Bund und Ländern auf Grundlage des Art. 107 GG i.d.F. des Gesetzes zur Änderung des Artikels 107 des Grundgesetzes vom 20. April 1953 endgültig geregelt werden. Erst nachdem dieser Gesetzentwurf dreimal den Vermittlungsausschuß durchlaufen hatte, wurde es im Dezember 1955 verkündet.92 Ein nicht unerheblicher Teilerfolg der Länder war dabei, daß der Bundesanteil am Aufkommen der Einkommen- und Körperschaftsteuer für drei Jahre auf 33⅓ % festgelegt wurde.

Ein weiterer Bund-Länder-Konflikt des Jahres 1955 betraf das Rundfunkwesen.93 Die Adenauer-Regierung war bereits seit 1951 betrebt, ein Bundesrundfunk-Gesetz auf den Weg zu bringen, hier aber am Widerstand der Länder gescheitert, die schließlich die Organisation des Rundfunkwesens untereinander in einem Staatsvertrag regelten. Insbesondere kam es hier zur endgültigen Errichtung eines Langwellensenders – dem späteren Deutschlandfunk –, der zur Abwehr kommunistischer Rundfunkpropagada das Staatsgebiet der DDR abdeckte.

Deutlich wird aus den bisherigen Ausführungen: Neben den zentralen Fragen der Wehrgesetzgebung und der Finanzreform gab es auf dem Gebiet der Bundespolitik verhältnismäßig wenig Reibungsflächen zwischen Bundes- und Staatsregierung. Dies mochte – erstens – zum Teil an grundsätzlich durchaus guten Beziehungen zwischen München und Bonn gelegen haben. Trotz unterschiedlicher Parteizugehörigkeit schien das Verhältnis Hoegners zu Bundeskanzler Adenauer ein gutes zu sein – bei seinem Antrittsbesuch in Bonn etwa habe er sich, so der neue Ministerpräsident, mit dem Bundeskanzler über „längere Zeit im besten Einvernehmen über eine Reihe von Fragen unterhalten“.94 Auch mit dem CSU-Bundesminister für Atomfragen, Franz-Josef Strauß, herrschte – insbesondere mit Blick auf den Aufbau der Atomforschung in Bayern – eine konstruktive Zusammenarbeit.95 Zweitens und vor allem aber dominierte im Jahre 1955 auf Bundesebene die große Außenpolitik, ohne nennenswerte Beteiligung oder Einflußmöglichkeiten der Länder. Beispielhaft sei hier die rein symbolische affirmative Erklärung des bayerischen Ministerpräsidenten zur Moskau-Reise des Bundeskanzlers im September 1955 genannt,96 die in der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der Sowjetunion sowie in der Freilassung der 10.000 in Rußland verbliebenen deutschen Kriegsgefangenen führte.97

Tatsächlich verlagerten sich die föderalen Konflikte im Jahre 1955 von bayerischer Perspektive aus betrachtet von der Bund-Länder-Ebene teilweise auf die Verhältnisse zwischen einzelnen Ländern. Auf das bereits seit längerem bestehende gespannte Verhältnis zu Rheinland-Pfalz, Resultat der langjährigen, zum Teil sehr nachdrücklichen Bemühungen aller Staatsregierungen um die Rückgliederung der Pfalz seit 1945 und durch die 1955 intensivierte Neugliederungsdebatte nochmals auf die Probe gestellt, wurde oben bereits verwiesen. Zum Nachbarland Baden-Württemberg waren die Beziehungen dagegen viel harmonischer, wie Ministerpräsident Hoegner in seinem Bericht über seinen Staatsbesuch bei Ministerpräsident Gebhard Müller in Stuttgart Mitte Juli berichtete.98 Mit Blick auf die Neugliederung des Bundesgebietes gab es mit dem südwestlichen Nachbarn keinerlei Differenzen, weder bezüglich Lindaus noch in der Frage der territorialen Zugehörigkeit von Neu-Ulm, das unmittelbar auf der bayerischen Seite der Ländergrenze lag. Ein offener Konkurrenzkampf zwischen Baden-Württemberg und Bayern trat allerdings in dem Standort-Wettberwerb um den ersten deutschen nuklearen Forschungsreaktor, der auf Beschluß der Bundesregierung dann in Karlsruhe errichtet wurde,99 wie auch in dem Bemühen um das Max-Plank-Institut für Kernphsik zutage.100 Auch zum SPD-regierten Nachbarland Hessen gestalteten sich die Beziehungen harmonisch, wie der Staatsbesuch des hessischen Ministerpräsidenten Zinn Anfang Mai 1955 in München101 sowie der Gegenbesuch von Ministerpräsident Hoegner im Juni zeigten.102

Anfang 1955, am 16./17. Februar, fand in Düsseldorf eine Ministerpräsidentenkonferenz statt, auf der u.a. Fragen des Rundfunks besprochen, eine gemeinsame Absichtserklärung zur künftig einheitlichen Behandlung der Beamtenbesoldung formuliert sowie ein bundeseinheitlicher Schuljahresbeginn im Frühjahr beschlossen wurde. Bezüglich des letzten Punktes mußte sich Ministerpräsidente Hoegner den Wünschen der anderen Landeschefs beugen, ansonsten sei, so Hoegner, das „Einvernehmen zwischen den Ministerpräsidenten sehr gut gewesen.“103 Allerdings: Schon bald nach dem Regierungswechsel in Bayern deuteten sich aus bayerischer Perspektive für die Stellung des Freistaates im Bundesrat negative Veränderungen an. Bereits Anfang 1955 verdichteten sich etwa die Hinweise darauf, das Bayern der Vorsitz im Auswärtigen Ausschuß des Bundesrats entzogen und stattdessen dem nordrhein-westfälischen CDU-Ministerpräsidenten Karl Arnold übertragen werden sollte.104 Seit Gründung der Bundesrepublik hatte der bayerische Ministerpräsident Hans Ehard diesen Ausschuß-Vorsitz durchgehend innegehabt.105 Der Hintergrund dieses geplanten Wechsels im Vorsitz war sicherlich, wie Ministerpräsident Hoegner später im Ministerrat vom 26. Juli 1955 betonte, zum Teil auch ein politischer: Durch den Regierungswechsel in Bayern hatte sich das Mehrheitsverhältnis im Bundesrat zuungunsten der Union verschoben, und in Anbetracht der anstehenden großen außenpolitischen Fragen des Jahres 1955 präferierte die Adenauer-Regierung einen CDU-Vorsitzenden in dem wichtigen Auswärtigen Ausschuß.106 Auf der anderen Seite ist zu betonen, daß der langjährige ununterbrochene Vorsitz Bayerns keinesfalls dem gängigen Usus entsprach, nach dem der Vorsitz in den Bundesrats-Ausschüssen unter den Ländern regelmäßig rotierte. Ein Wechsel in der Leitung des Auswärtigen Ausschusses stand im Jahre 1955 ohnehin und unvermeidlich auf der Tagesordnung, dessen war sich denn auch die bayerische Seite völlig bewußt.107

In der Ministerratssitzung vom 26. Juli kulminierte sichtlich die deutliche Frustration des Ministerpräsidenten über die Arbeit des Bundesrates bzw. die Rolle Bayerns in der Länderkammer. Denn neben der weiterhin in der Schwebe befindlichen Frage des Vorsitzes im Auswärtigen Ausschuß waren weitere Konfliktpunkte die negative Haltung der anderen Länder im Bundesrat zur Neugliederungsfrage des Bundesgebietes sowie – im Juli 1955 sehr aktuell – die Ablehnung eines bayerischen Antrags im Bundesrat am 22. Juli, mit dem Bayern die landsmannschaftliche Rekrutierung der Freiwilligenverbände in der Bundeswehr gefordert hatte. All diese Vorkommnisse wurden von Wilhelm Hoegner als unfreundliche Akte gegenüber dem Freistaat bewertet. Die persönliche Betroffenheit Hoegners, ja sein streckenweise aus den Ministerratsprotokollen sprechender Ärger über die Widerstände, die Bayern im Bundesrat erfuhr, hatte auch einen konkreten landes- und tagespolitischen Hintergrund. Denn die Staatsregierung sah sich aufgrund der Entwicklungen im Bundesrat einer massiven Kritik der oppositionellen CSU ausgesetzt, die der Viererkoalition in der Bundespolitik ein Totalversagen vorwarf; in kürzester Zeit seien das Ansehen und das Gewicht Bayerns im Bundesrat verspielt worden und es sei sehr zu bezweifeln, ob sich die neue Regierung mehr als einem reinen „Zweckföderalismus“ verpflichtet sehe.108

Bei aller Polemik legte die Kritik der CSU hinsichtlich eines Aspekts ihren Finger doch auf eine offene Wunde: Der überzeugte und prinzipienfeste Föderalist Wilhelm Hoegner geriet im Kabinett mit seiner Haltung in eine Minderheitenposition. Hoegners Diagnose, daß Bayern in der Länderkammer systematisch unfreundlichen Akten ausgesetzt sei, vermochten die Kabinettsmitglieder nämlich mehrheitlich nicht zu folgen. Auch die Übernahme des Vorsitzes im Auswärtigen Ausschuß durch Nordrhein-Westfalen wurde als ein normales, turnusmäßiges und geschäftsordnungsmäßiges Procedere bewertet – bemerkenswerterweise auch von Staatssekretär Panholzer von der dezidiert föderalistischen Bayernpartei. Vor allem aber überzeugte das Kabinett – Wortführer war hier Staatssekretär Haas – den Ministerpräsidenten von der Notwendigkeit, nach Abgabe der Leitung des Auswärtigen Ausschusses stattdessen den angebotenen Vorsitz des neuen Bundesrats-Ausschusses für europäische Sicherheit zu übernehmen. Ministerpräsident Hoegner hatte dieses Angebot ein Stück weit als persönliche Kränkung empfunden, befürchtete allerdings auch bei einer Übernahme des Vorsitzes des Sicherheitsausschusses eine erhebliche Arbeitsbelastung und äußerte Zweifel, ob sich diese mit seinen Pflichten als Ministerpräsident vereinbaren lasse. Einmütig allerdings verwiesen die Kabinettskollegen jedoch auf die Bedeutung des Sicherheitsausschusses, der gegenwärtig der bedeutendste Bundesratsausschuß sei, die Übernahme des Vorsitzes sei auch eine Prestigefrage und erhöhe den bayerischen Einfluß in Bonn. Wilhelm Hoegner folgte den Argumenten seiner Minister und Staatssekretäre, die nicht zuletzt – wie Staatssekretär Panholzer – auch die patriotische Pflichterfüllung in die Waagschae geworfen hatten: Der „Herr Ministerpräsident“ werde, so Panholzer, „dem Lande einen großen Dienst erweisen, wenn er seine Bedenken zurückstelle und den ihm angetragenen Vorsitz im Sicherheitsausschuß annehme.“

2.Landespolitik

Analog zu der bisherigen Darstellung der bundespolitischen Schwerpunkte läßt sich auch für die Landespolitik im ersten Regierungsjahr der Viererkoalition konstatieren: Bei allem Reformeifer der Koalition war das Jahr 1955 verhältnismäßig arm an großen legislativen Projekten, aber reich an kontroversen politischen Themen und oftmals harten Konflikten – sei es zwischen Regierung und Landtagsopposition oder auch anderen Verfassungsorganen, zwischen einzelnen Ressorts, zwischen Regierung und Kirchen und streckenweise auch auf persönlicher Ebene. Hier läßt sich aus den Ministerratsprotokollen 1955 in der Tat ein markanter Unterschied zu den vorherigen Regierungen feststellen.

Wie bereits angedeutet, wurde der Viererkoalition nach ihrem Regierungsantritt im Dezember 1954 auf der landespolitischen Bühne keinerlei politische Schonzeit gewährt. Umgehend wurde seitens der Opposition und anderer politischer Gegner der Grundton für die künftigen Auseinandersetzungen in der Landespolitik gesetzt.

Schon Anfang Januar kam es für die Staatsregierung zu einem Eklat, als der Münchnener Kardinal Wendel kurzfristig seine Teilnahme am traditionellen Neujahrsempfang der Staatsregierung am 11. Januar absagte.109 Dies war in der Tat, wie Wilhelm Hoeger im Ministerrat ausführte, ein ungewöhnlicher Vorgang; vorausgegangen und ursächlich war hier ein Rundfunkbeitrag des stellvertretenden Ministerpräsidenten Baumgartner vom 5. Januar gewesen, in dem sich dieser als BP-Parteivorsitzender kämpferisch mit der CSU auseinandergesetzt und mit Blick auf das Bayerische Konkordat von Auslegungsschwierigkeiten oder Interpretationsspielräumen gesprochen hatte. Die kulturpolitischen Konflikte des vorausgegangenen Wahlkampfes, konkret: die Auseinandersetzung um das von SPD und FDP vehement vorangetriebene Projekt der Lehrerbildungsreform, fanden Anfang 1955 umgehend und ungebrochen ihre Fortsetztung. Mit eine Rolle spielte dabei natürlich auch, daß die neue Regierung die Umsetzung der Koalitionsvereinbarung zügig in Angriff nahm. Nachdem die bereits im Jahre 1947 von der US-Militärregierung geforderte Reform der Volksschullehrerausbildung von den vorherigen Staatsregierungen stets verschleppt worden war, brachten die vier Koalitionsparteien am 28.1.1955 den Entwurf eines Gesetzes über die Ausbildung für das Lehramt an Volksschulen (Lehrerbildungsgesetz) ein. Der Entwurf sah vor, daß die künftigen Lehrkräfte an Volksschulen ihre Berufsausbildung anstatt in konfessionellen Lehrerbildungsanstalten nunmehr in einem dreijährigen Studium an nicht-konfessionell organisierten Pädagogischen Hochschulen durchlaufen sollten, nur bezüglich der Lehrkräfte für Religionspädagogik fanden die Bestimmungen des Konkordats und des Vertrages mit der evangelisch-lutherischen Landeskirche gesonderte Erwähnung. Die Reaktion der Kurie erfolgte umgehend. Am 7. Februar verschickte die Apostolische Nuntiatur von Bad Godesberg aus eine Stellungnahme an die Staatsregierung, in der die grundsätzliche Unvereinbarkeit des Gesetzentwurfs mit dem Bayerischen Konkordat betont wurde:110 Dessen Art. 5 § 1–3 garantierten die konfessionelle Ausbildung der Lehrer, deren Eignungsprüfung durch die Kirche sowie die Verpflichtung des Staates, Einrichtungen für eine entsprechende Lehrerausbildung zur Verfügung zu stellen. Auch versäumte es die Apostolische Nuntiatur nicht, prophylaktisch den ihrer Auffassung nach völkerrechtswidrigen Charakter des geplanten Lehrerbildungsgesetzes anzudeuten. In dem Außerordentlichen Ministerrat vom 9. Februar 1955 legte das Kabinett, sichtlich um eine deeskalierende Strategie bemüht, sich auf die Linie fest, das Lehrerbildungsgesetz vorläufig nicht als Regierungsprojekt, sondern ausschließlich als Landtagsangelegenheit zu behandeln, zu der die Staatsregierung noch keine Stellung nehmen könne. Der Gesetzentwurf wurde dann am 16. Februar in erster Lesung im Landtag behandelt. Dieser Argumentation vermochte die Apostolische Nuntiatur, wie aus einer weiteren Note vom 8. März hervorging, nicht zu folgen.111 Die Staatsregierung sah sich in der Folge einer Reihe schwerer Angriffe von Seiten etwa einer katholischen Elternvereinigung,112 der Katholischen Aktion,113 der Bistumspresse114 und der bayerischen Bischöfe ausgesetzt.115 Vor allem die Haltung des bayerischen Espiskopats erschien äußerst heikel, wurde die Staatsregierung hier mit dem durchaus schwerwiegenden Vorwurf konfrontiert, bei der Behandlung des Entwurfs des Lehrerbildungsgesetzes weder im Einklang mit der Verfassung noch mit dem Völkerrecht zu stehen – ja die Bischöfe gingen gar so weit, von einem „Notstand“ zu sprechen. Trotz aller vehementen Proteste von seiten der Kirche verabschiedete der Bayerische Landtag in seiner Sitzung vom 14. Juli den Gesetzentwurf gegen die Stimmern der CSU, freilich nicht ohne gleichzeitig auf Antrag der vier Regierungsfraktionen den Beschluß zu fassen, bezüglich der Lehrerbildung in weitere Verhandlungen mit der katholischen sowie der evangelischen Kirche einzutreten. Die Staatsregierung insgesamt, insbesondere aber Ministerpräsident Hoegner, war sich der verfahrenen Situation sehr bewußt – was nicht zuletzt durch das Vorhaben belegt wird, den renommierten Münchener Staats- und Verfassungsrechtler Hans Nawiasky als bayerischen Vertreter für künftige Verhandlungen über die Lehrerbildung mit dem Hl. Stuhl in Rom zu benennen.116 Eine substantielle Annäherung zwischen der Staatsregierung und dem Vatikan in der Frage der Lehrerbildung kam in der Folge allerdings nicht zustande, und Ministerpräsident Hoegner wich weiteren Auseinandersetzungen mit der katholischen Kirche bewußt aus. Der Initiativgesetzentwurf der Koalitionsparteien, das kulturpolitische Kernstück des Wahlkampfes 1954 und das zentrale Hauptanliegen vor allem der Bildungspolitiker in SPD und FDP, ging im Parlament nicht in die dritte Lesung. Die dringende Reformbedürftigkeit der Lehrerausbildung in Bayern blieb natürlich weiterhin virulent und offensichtlich, und paradoxerweise sollte die ab Oktober 1957 amtierende Regierung unter dem CSU-Ministerpräsidenten Hanns Seidel das von der Viererkoalition geplante und vorbereitete Lehrerbildungsgesetz im Jahre 1958 zügig und absolut geräuschlos durch den Landtag bringen.

Generell ist hier noch anzufügen: Das Verhältnis zu den Kirchen war für die Viererkoalition ein hochsensibles. Zwar war die Lehrerbildungsfrage mit der evangelischen Kirche weniger umstritten,117 zu einem Politikum im Ministerrat konnte im Jahre 1955 aber schon der geplante Neubau eines Gotteshauses werden.118 Im niederbayerischen Gangkofen etwa hatte das zuständige Landratsamt der evangelischen Kirche eine Baugenehmigung untersagt, sogar der Landesbaukunstausschuß hatte sich mit dem Kirchenneubau beschäftigt und die Architektur zunächst als unpassend verworfen. Ministerpräsident Hoegner drängte hier auf eine rasche Revision der Entscheidung des Landratsamtes, um Schwierigkeiten mit der evangelischen Kirche zu vermeiden. Keinesfalls dürfe der Eindruck entstehen, daß eine Konfession bei Verwaltungsakten wie einer Baugenehmigung benachteiligt werde.119

Auch ein zweites Schulgesetz scheiterte im Jahre 1955. Auf der Ministerpräsidentenkonferenz in Düsseldorf am 16./17. Februar hatten sich die Länderchefs in einem Abkommen darauf verständigt, den Schuljahresbeginn bundeseinheitllich auf das Frühjahr zu legen.120 Das Staatsministerium für Unterricht und Kultus legte daraufhin – auf Drängen des Ministerpräsidentenden, der auf seine verbindliche Zusage gegenüber den anderen Ländern verwies – den Entwurf eines Gesetzes über den Schulbeginn in Bayern vor,121 der später wiederum in dem Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Schulpflichtgesetzes aufging.122 Dieses Gesetz sollte erst 1957 in Kraft treten – und zwar in stark geänderter Form, ausschließlich mit Bezug auf die Berufsschulpflicht und ohne Änderungsbestimmungen bezüglich des Schuljahrbeginns. Der Landtag und wohl auch die Kultusbürokratie waren hier nicht bereit, für eine bundesweite Vereinheitlichung von den bayerischen Traditionen abzuweichen.

Das – vorläufig – gescheiterte Projekt der Volksschullehrerbildung war nur eines von zahlreichen Themen aus dem Zuständigkeitsbereich des Kultusministeriums, das den Ministerrat im Jahre 1955 wiederholt beschäftigte. Tatsächlich waren 1955 Fragen aus dem Bereich der Wissenschafts- und Forschungspolitik sehr zentral, wurden auch engagiert in Angriff genommen und überragten in ihrer Bedeutung die Arbeit der anderen Ressorts. Als wichtigstes Vorhaben ist hier der Einstieg Bayerns in die Kernforschung und die friedliche Nutzung der Atomkräfte anzuführen; entscheidend war hier die vorausgegangene Grundsatzentscheidung des Bundes zur Aufnahme der Atomforschung gewesen. Natürlich war diese Angelegenheit auch in der Staatskanzlei gewissermaßen „Chefsache“, auch das Staatsministerium für Wirtschaft und Verkehr und das Innenministerium waren involviert, die Verhandlungsführung lag jedoch bei Kultusminister Rucker. In der ersten Sitzung des neuen Kabinetts am 15. Dezember 1954 stimmte der Ministerrat der Errichtung eines Atom-Meilers nördlich von München zu; gleichzeitig sollten die Bemühungen um eine Verlegung des Max-Planck-Instituts für Physik unter der Leitung des Nobelpreisträgers Werner Heisenberg von Göttingen nach München intensiviert werden.123 Die Frage der Atompolitik stand im Jahre 1955 in insgesamt 22 Ministerratssitzungen auf der Tagesordnung. Beratungsgegenstände waren hierbei die Verhandlungen mit dem Bund und die Konkurrenz zur Landesregierung von Baden-Württemberg,124 denn mit Blick auf den künftigen Standort des ersten deutschen Kernreaktors hatte Karlsruhe die besseren Chancen. Aber auch mit den umwelttechnischen Bedenken der Münchener Wirtschaft hinsichtlich einer Atommeiler-Errichtung hatte sich der Ministerrat auseinanderzusetzten. So fürchteten die Münchener Brauereien etwa negative Auswirkungen auf die Wasserqualität – eine Sorge, die von Werner Heisenberg auf Anfrage des Kultusministeriums vom Tisch gewischt wurde.125 Schon im Ministerrat vom 15. Dezember hatte Kultusminister Rucker lapidar geäußert, daß „eine Verseuchung des Wassers, von der vielfach geredet werde […] nicht zu befürchten“ sei, „gegebenenfalls werde die Inaktivierung keinerlei Schwierigkeiten machen.“

Im Juni 1955 fiel seitens der Bundesregierung die Entscheidung, das deutsche Kernforschungszetrum in Karlsruhe anzusiedeln,126 auch der Umzug des Max-Planck-Instituts für Physik nach München scheiterte vorerst und kam erst 1958 zustande, obwohl dessen Leiter Werner Heisenberg persönlich für eine zügige Verlegung seines Instituts in die bayeriche Landeshauptstadt plädiert hatte. Die Staatsregierung blieb in der Atomfrage jedoch weiterhin entschlossen und ergriff weitere Initiativen. Ein wichtiger Schritt war der Beschluß des Ministerrats vom 11. Juli über die Einrichtung einer bayerischen Kommission zur friedlichen Nutzung der Atomkräfte, eine Entscheidung, die Ministerpräsident Hoegner nicht zuletzt mit Blick auf die öffentliche Kritik und die Bedenken in der Bevölkerung hinsichtlich der Atom-Frage begründete.127 Mit der im Kultusministerium vorbereiteten Bekanntmachung über die Bildung einer Bayerischen staatlichen Kommission zur friedlichen Nutzung der Atomkräfte vom 22. November 1955 wurde diese Kommission institutionalisiert, als eine Einrichtung, die unter dem Vorsitz des Ministerpräsidenten sämtliche Fragen behandeln sollte, die auf dem Gebiet der Wissenschaft und Wirtschaft für die friedliche Nutzung der Kernenergie vom Relevanz waren und die die Staatsregierung in diesen Fragen unmittelbar beraten sollte.128 Es war diese Atomkommission, die am 6. Juni 1956 – von Ministerpräsident Hoegner spontan zu einem improvisierten aber beschlußfähigen Ministerrat umfunktioniert – den Ankauf eines US-amrikanischen Forschungsreaktors für die Technische Hochschule München beschloß. Schon Ende Oktober 1957 kam in Garching die erste sich selbst erhaltende Kernspaltung in Deutschland in Gang.129

In der Wissenschaftspolitik und Forschungsförderung war das Kultusministerium auch auf weiteren Feldern aktiv. Erneut etwa wurde die Ausstattung und Unterbringung des im Vorjahr neu an der Technischen Hochschule München errichteten Instituts für Holzforschung behandelt, ein Forschungsinstitut, das für das waldreiche Agrarland Bayern als äußerst wichtig erachtet wurde.130 Zusätzlich befürwortete die Staatsregierung auch die Errichtung und die Finanzierung eines mit dem Universitäts-Lehrstuhl für Holzforschung verbundenen Max-Planck-Instituts für Holzforschung in München.131 Nicht zuletzt auf Initiative des bayerischen Kultusministeriums hin wurde schließlich das Münchener Institut für Zeitgeschichte, vormals bis zur Umbenennung im Jahre 1952 das Institut zur Erforschung der nationalsozialistischen Politik, ab dem Haushaltsjahr 1956 in das Königsteiner Abkommen der Länder zur Finanzierung überregionaler Forschungseinrichtungen aufgenommen.132 Eine weitere zentrale Grundsatzentscheidung für den Wissenschaftsstandort Bayern war im Jahre 1955 sodann der Beschluß, die Münchener Universitätskliniken aus dem beengten Bereich der Altstadt – dem Klinikviertel um das Sendlinger Tor – nach Großhadern zu verlegen, ein Projekt, das erst rund 20 Jahre später zum endgültigen Abschluß kam.133 Insgesamt zehnmal wurde zwischen März und November 1955 eine Frage behandelt, die gleichzeitig in die Zuständigkeit des Kultus- und den Finanzministeriums fiel. Es handelte sich um die Verwendung des Geländes des ehemaligen Armeemuseums am Münchener Hofgarten und um die Standortverlegung des dortigen Kriegerdenkmals.134 Der Bayerische Rundfunk hatte einen vertraglichen Anspruch auf das Gelände und das Gebäude des kriegszerstörten Armeemuseums erworben, als Ausgleich für die von ihm durchgeführte Finanzierung des Wiederaufbaus des Herkulessaales in der Münchener Residenz. Bei Inanspruchnahme des Geländes durch den Rundfunk hätte das im Jahre 1924 eingeweihte, unmittelbar am Hofgarten gelegene und im Januar 1945 durch einen Luftangriff stark beschädigte Kriegerdenkmal verlegt werden müssen. Das Staatsministerium der Finanzen brachte daher eine Verlegung des Denkmals in die Feldherrnhalle ins Spiel, ein Vorschlag, der im Ministerrat verhalten aufgenommen und von der Öffentlichkeit, von Krieger- und Soldatenvereinen und auch von der Stadt München abgelehnt wurde. Die Beratungen im Ministerrat über das Kriegerdenkmal verharrten lange in der Schwebe, da der Bayerische Rundfunk keine konkrete Stellung bezog und die Statsregierung über seine Pläne für das Armeemuseum im Unklaren ließ. Erst nachdem der Bauausschuß der Stadt München und in der Folge auch der Münchner Stadtrat sich einstimmig gegen eine Verlegung des Kriegerdenkmals ausgesprochen hatten, schließlich auch der Rundfunk sein Desinteresse am Armeemuseum signalisierte, beschloß der Ministerrat den Verbleib des Denkmals an seinem ursprünglichen Standort.135

Die oben behandelte Frage der Lehrerbildungsreform war nicht der einzige Punkt der Koalitionsvereinbarung vom 10. Dezember 1954, den die neue Regierung umgehend in Angriff nahm. Auch das Projekt der Neuverteilung und Konzentration von Ressortkompetenzen und die Verwaltungsvereinfachung wurden zügig angegangen. Schon in der ersten Ministerratssitzung des neuen Kabinetts thematisierte Arbeitsminister Stain die Veränderung in den Geschäftsbereichen der Ministerien.136 Gemäß Punkt IV.1 der Koalitionsvereionbarung sollten sämtliche „wesentlichen“ sozialpolitischen Aufgaben des Staates in einem Ministerium gebündelt werden. Konkret ging es um die Verlagerung der Abteilungen V (Wohnraumbewirtschaftung, Angelegenheiten der Vertriebenen und Flüchtlinge, Angelegenheiten der Evakuierten) und VI (Lastenausgleichsamt) vom Innen- zum Arbeitsministerium, die mit dem Gesetz zur Überleitung von Zuständigkeiten auf das Staatsministerium für Arbeit und soziale Fürsorge vom 4. Mai 1955 vollzogen wurde.137 Weiterhin wurden durch die Zweite Verordnung über den Vollzug des Lastenausgleichsgesetzes vom 4. Mai 1955 die Aufgaben und Zuständigkeiten des Landesausgleichsamtes und der Heimatauskunftstellen auf das Staatsministerium für Arbeit und soziale Fürsorge übertragen;138 hier allerdings kam es zu einem Konflikt zwischen dem Arbeitsministerium auf der einen, dem Finanz- und Innenministerium auf der anderen Seite. Letztere setzten sich mit ihrer Auffassung durch, daß zwar die Aufgaben des Landesausgleichsamtes auf das Arbeitsministerium übergehen, die unmittelbare Dienstaufsicht über das Personal bei den Regierungen und Landratsämtern aber bei der Inneren Verwaltung zu verbleiben habe; ebenso blieb das Personal haushaltsmäßig beim Innenministerium. Ebenfalls am Widerspruch des Finanz- und des Innenministeriums scheiterte das vom Arbeitsministerium zeitgleich vorgelegte Gesetz über die Eingliederung der Hauptfürsorgestelle für Kriegsbeschädigte und Kriegshinterbliebene in das Staatsministerium für Arbeit und soziale Fürsorge.139 Für die Fürsorge, so die Mehrheitsmeinung im Ministerrat, sei die Wohlfahrtsabteilung im Innenministerium zuständig; auch seien die finanziellen Auswirkungen des Gesetzentwurfs nicht absehbar und Zweifel daran angebracht, ob es sich hier um eine Maßnahme zur Verwaltungsvereinfachung handle.

Diese in Punkt VII der Koalitionsvereinbarung festgelegte Staatsvereinfachung – ein Projekt, das schon eine Vorlaufzeit aus den vorausgegangenen Legislaturperioden besaß – kam unter der Viererkoalition nur teilweise zur Umsetzung. Keine nachhaltige Wirkung entfaltete die Tätigkei des Anfang 1955 auf Betreiben Waldemar v. Knoeringens eingesetzten Arbeitsgemeinschaft für Staatsvereinfachung, eine 13-köpfige Expertenkommission unter der Leitung des bis 1954 amtierenden Präsidenten des Bayer. Verwaltungsgerichtshofes, Ottmar Kollmann, deren erstes Teilgutachten im April 1955, der zweite Teil im Mai 1957 erschienen.140 Die Umsetzung dieser Gutachten scheiterte letztendlich am Widerstand insbesondere Wilhelm Hoegners, der in den Vorschlägen der Arbeitsgemeinschaft eine Ausweitung der Kompetenzen der staatlichen Bürokratie auf Kosten des Parlaments sowie eine Bedrohung der erst in der vorhergehenden Legislaturperiode implementierten Demokratisierung der inneren Verwaltung erkannte.

Indirekt sachlich verwandt zum Projekt der Staatsvereinfachung, freilich zu dieser in einem gewissen grundsätzlichen Widerspruch stehend, war das im Zusatzprotokoll zur Koalitionsvereinbarung niedergelegte Vorhaben der Einrichtung der Regierung von Niederbayern in Landshut.141 Dieser Plan sorgte im Ministerrat für streckenweise heftige Diskussionen. 1932 waren die Regierungsbezirke Oberpfalz und Niederbayern zusammengelegt, nach dem Kriege durch das Gesetz Nr. 107 zur Wiederherstellung der Kreise Niederbayern, Oberpfalz, Oberfranken und Mittelfranken vom 20. April 1948 dann wieder in eigenständige Regierungsbezirke umgewandelt worden, allerdings vorläufig ohne die Errichtung eines Regierungssitzes in Landshut. Die Bezirksverwaltung erfolgte weiterhin von Regensburg aus. Für Ministerpräsident Hoegner war die längst überfällige Wiedererrichtung des Regierungssitzes Landshut eine prinzipielle Angelegenheit der Verfassungs- und Gesetzestreue: Artikel 185 der Bayerischen Verfassung bestimmte, daß die „alten Kreise (Regierungsbezirke) mit ihren Regierungssitzen […] wiederhergestellt“ werden, das Gesetz Nr. 107 vom 20.4.1948 enthielt eine identische Regelung. Jetzt, so Hoegner, da das Regierungsgebäude in Landshut nicht mehr von der Besatzungsmacht beschlagnahmt sei, sei der Zeitpunkt für den Regierungsumzug gekommen. Die Verfassung, so Hoegner im Ministerrat vom 24. Mai, „sei das Gesetz der Gesetze, sie dürfe nicht verletzt werden.“142 Dagegen hatte Finanzminister Zietsch bereits vorher auf die hohen Kosten der Verwaltungsverlagerung verwiesen. Nach Schätzungen des Innenministeriums würde der Neuaufbau der Regierung in Landshut rund 6,5 Millionen DM erfordern, mit fortlaufenden jährlichen Betriebs- und Personalkosten von rund 2 Millionen DM. Im Gegensatz zum Ministerpräsidenten sah Finanzminister Zietsch die Verfassungsbestimmung des Art. 185 auch ohne eine Regierungsverlagerung nach Landshut als erfüllt an, das Gesetz Nr. 107 könne jederzeit geändert werden, und der Finanzminister stellte gar die Idee einer Verringerung der Zahl der Regierungsbezirke von sieben auf nur zwei in den Raum.143

Auch Staatssekretär Haas plädierte für seine Partei gegen die Regierungsverlagerung. Für die FDP handle es sich nicht um eine Rechts- sondern um eine politische Frage. Die FDP sei schon 1946 gegen den Artikel 185 der Verfassung gewesen, vor allem aber drohe der Viererkoalition ein ernsthafter Glaubwürdigkeitsverlust: Die Errichting einer Regierung in Landshut sei nicht mit der Staatsvereinfachung und den Grundsätzen einer sparsamen Haushaltsführung vereinbar. Sogar der SPD-Justizminister Koch argmentierte gegen den Ministerpräsidenten mit dem Verweis, daß der Artikel 185 der Verfassung kein ‚Ewigkeitsartikel’, sondern bewußt in die Schluß- und Übergangsbestimmungen der Verfassung aufgenommen worden sei. Volle Unterstützung erhielt Wilhelm Hoegner nur von seinem Vertrauten, Innenstaatssekretär Vetter, und seitens der Regierungsmitglieder von der Bayernpartei. Diese sprachen sich mit Nachdruck für die Regierungsverlegung aus, primär aus politisch-pragmatischen Gründen und mit Blick auf ihre niederbayerische Wählerschaft. Die Diskussion im Ministerrat endete mit einem vorläufigen, auch später vom Landtag mitgetragenen Kompromiß, einer sogenannten „kleinen Lösung“,144 bei der mit einem geringen jährlichen Kostenaufwand vorläufig nur der Regierungspräsident mit seinen engsten Mitarbeitern nach Landshut versetzt werden sollte.145 Dieser provisorische Zustand bestand dann für noch rund weitere vier Jahre, erst zum 1.5.1959 wurden die noch in Regensburg verbliebenen Abteilungen und Sachgebiete der Regierung von Niederbayern endgültig nach Landshut verlegt.

Als Reformvorhaben der Viererkoalition erfolgreich abgeschlossen wurde später dagegen das ebenfalls in der Koalitionsvereinbarung festgeschriebene Großprojekt der Gesetzesbereinigung, der Sammlung des bayerischen Landesrechts seit dem Jahre 1802, die bereits im Jahre 1951 von Wilhelm Hoegner, damals Staatsminister des Inneren, angedacht worden war.146 Ab April 1955 waren in jedem Ministerium wie in der Staatskanzlei jeweils ein Beamter für die Sammlung der noch geltenden landesrechtlichen Vorschriften abgestellt, und es wurde zur Koordinierung ein unter dem Vorsitz des Leiters der Rechtsabteilung der Staatskanzlei stehender Arbeitskreis ins Leben gerufen.147 Zum Leiter ernannt wurde hier der Amtsgerichtsrat, spätere Münchener Oberbürgermeister sowie SPD-Parteivorsitzender, Regierender Bürgermeister von Berlin und SPD-Bundesminister Hans-Jochen Vogel. In der 1957 vorgelegten fünfbändigen „Bereinigten Sammlung des Bayerischen Landesrechts“ waren die seit 1802 im Gesetz-und Verordnungsblatt veröffentlichten 22.266 Rechtsvorschriften auf schließlich nur noch 1.074 reduziert.

Spielbanken Aus dem Zuständigkeitsbereich des Staatsministeriums des Innern ist für das Jahr 1955 als markantester – und: fast alleiniger – Politik-Schwerpunkt ein Thema zu nennen, das in den Koalitionsvereinbarungen keine Erwähnung gefunden, aber eine längere Vorgeschichte im Landtag hatte. Es handelte sich um die Konzessionierung von Spielbanken im Freistaat.148 Seit dem Jahre 1947/48 hatten sich verschiedene bayerische Kur- und Tourismusorte zum Teil mit Vehemenz um Genehmigungen zum Spielbankenbetrieb bemüht, und wiederholt waren im Bayerischen Landtag fraktionsübergreifende Anträge zur Spielbankenkonzessionierung eingebracht, von der Staatsregierung jedoch stets hinhaltend behandelt worden. Die Zustimmung und Abehnung in der Spielbankenfrage zog sich quer durch alle Parteien, nur die Bayernpartei trat mit ihrer positiven Haltung zu den Spielbanken geschlossen auf. Nachdem bereits im Jahre 1951 ein Spielbanken-Gesetz gescheitert war und das Thema Spielbanken sich seither in der Schwebe befand, nahm der BP-Innenminister Geislhöringer nun umgehend die Verhandlungen und Vorbereitungen zur Spielbankenkonzessionierung auf. Im Juni 1955 erhielten die Spielbanken in Bad Reichenhall, Bad Kissingen und in Garmisch-Partenkirchen vom Innenministerium ihre Zulassungen auf dem Verwaltungswege. Dies war ein zulässiges und rechtlich nicht zu beanstandendes Procedere, es erweckte allerdings umgehend den Eindruck von Intransparenz, es erregte Mißtrauen sowie politschen Mißmut und sollte mittelfristig sehr erhebliche Konsequenzen haben. Der Bayerische Senat etwa hatte nur wenige Tage vor der Konzessionierung der Spielbanken durch das Inennministerium noch versucht, durch einen Initiativgesetzentwurf das nach wie vor gültige Spielbankengesetz von 1933 aufzuheben und somit die Zulassung von Spielbanken in Bayern unmöglich zu machen. Auch war die Staatsregierung durch Senatsbeschluß aufgefordert worden, von der Zulassung von Spielbanken grundsätzlich Abstand zu nehmen.149 Es kam hier zu einer Verstimmung des Senats, der sich höchst befremdet darüber zeigte, daß das Staatsministerium des Innern die Konzessionierung vollzogen hatte, ohne die Behandlung des Senatsentwurfs im Landtag überhaupt abzuwarten.150 Aber auch koalitionsintern sorgte das Vorgehen Geislhöringers für einige Irritationen, hatte das Innenministerium doch ohne Wissen des Finanzministeriums zwei vorab vereinbarte Klauseln in den Zulassungsurkunden, die unter Umständen einen entschädigungslosen Widerruf der Genehmigungen ermöglichen sollten, ersatzlos und zum Nachteil des Staates gestrichen.151 Ministerpräsident Hoegner äußerte sich in diesem Zusammenhang spürbar ungehalten über die Kommunikationsstrategie und die Eigenmächtigkeiten seines Innenministers. Weiterhin hatte die Spielbanken-Konzessionierung auch ein unmittelbares parlamentarisches Nachspiel, da die CSU in einer Landtags-Interpellation die Offenlegung der Konzessionsverträge im Wortlaut einforderte.152 Im Verlauf der Behandlung dieser Interpellation in der Landtagssitzung vom 6. Oktober 1955 stellte der CSU-Abgeordnete Rudolf Hanauer dann auch – allerdings nur gerüchteweise kolportierte – Korruptionsvorwürfe in den Raum, was Ende Oktober auf Antrag der CSU zur Einsetzung eines Landtags-Untersuchungsausschusses führte.153 Dieser Ausschuß sollte auf einen Zusatzantrag der Koalitionsparteien hin innerhalb von nur vier Wochen einen Zwischenbericht erstatten. Die Tätigkeit des Spielbanken-Untersuchungsausschusses endete im Mai 1957 ohne substantielles Ergebnis, hatte zwei Jahre darauf aber nachhaltige Folgen. Nach einer Selbstanzeige eines Untersuchungsausschuß-Zeugen kam 1959 der sogenannte Spielbanken-Prozeß ins Rollen, an dessen Ende die früheren Staatsminister Baumgartner und Geislhöringer wegen Falschaussage vor dem Untersuchungsausschuß zu Haftstrafen verurteilt wurden und die Bayernpartei zwei Jahre nach dem Ende der Viererkoalition in der Bedeutungslosigkeit verschwand.

Eine positive Entwicklung gab es für die Viereroalition auf dem Gebiet der Haushaltspolitik. Die sparsame Staatshaushaltsführung war zwar in der Koalitionsvereinbarung festgeschrieben worden, und Finanzminister Zietsch gab im Kabinett mit Blick auf die Staatsausgaben verständlicherweise und qua Amt stets den Mahner, jedoch eröffnete eine unerwartete Steigerung der Steuereinnahmen der Staatsregierung gewisse neue Spielräume. Wie im Außerordentlichen Ministerrat vom 6. Juni 1955 verkündet wurde, war in den ersten Monaten des Jahres 1955 das Steueraufkommen – nur mit Ausnahme der Vermögensteuer – spürbar angewachsen.154 Das Finanzministerium nahm dies zum Anlaß, einerseits die Staatsverschuldung zügig abbauen zu wollen, andererseits aber eine aktive Finanzpolitik ab dem Haushaltsjahr 1956 anzustreben. Der Staatshaushalt 1955 und das Haushaltsgesetz 1955 waren bereits fertig gestellt.155 Der Ministerrat beschloß, aufgrund der Steuermehreinnahmen unpopuläre Haushaltskürzungen in den Einzelplänen der Ministerien teilweise zurückzunehmen – und damit auch der Kritik der CSU-Opposition den Wind aus den Segeln zu nehmen –, außerdem wurde auf Beschluß des Koalitionsausschusses vom 18. Juli 1955156 ein Sonderleistungsprogramm der Koalitionsregierung auf den Weg gebracht.157 Mit zusätzlichen Finanzmitteln in Höhe von über 200 Millionen DM sollte ein Zehn-Punkte-Plan umgesetzt werden, der u.a. den Bau von 8.000 Wohnungen für Minderbemittelte, Kinderreiche und Evakuierte, den Bau von 500 km neuer Straßen und die Ertüchtigung der sonstigen Infrastruktur, Kreditprogramme für den Fremdenverkehr und die Landwirtschaft, die Erschließung der Bodenschätze im Freistaat, die Neuordnung des Schulwesens oder die bereits oben behandelte Förderung der Atomforschung in Bayern umfaßte.

Zusätzliche Einnahmen konnte der Freistaat im Jahre 1955 auch durch die bereits länger geplante und vorbereitete Veräußerung von Staatsbeteiligungen erzielen. Zunächst behandelte der Ministerrat hier den Verkauf der 26%-igen Beteiligung an der zum Friedrich-Flick-Konzern gehörenden Maximilianshütte im oberpfälzischen Sulzbach-Rosenberg.158 Diese Anteile waren im Jahre 1951 vom bayerischen Staat erworben worden,159 ein Rückverkauf bereits im Jahre 1953 im Ministerrat behandelt160 und am 2. August 1954 vom Bayerischen Landtag – gegen die Stimmen der SPD – beschlossen worden.161 Der Koalitionsausschuß der neuen Regierung entschied dann am 10. Januar 1955, die Anteile an der Maxhütte an die Flick KG zurück zu verkaufen. Die Koalitionsregierung war in dieser Frage, wie im Außerordentlichen Ministerrat vom 17. Januar, an dem auch die Fraktionsvorsitzenden der Regierungsparteien im Landtag teilnnahmen, gespalten.162 Die SPD lehnte den Anteilsverkauf weiter ab, und zwar aus wirtschafts- wie industriepolitischen Gründen, wie Finanzminister Zietsch nochmals ausführte. Eine Rolle spielte hier auch der Zusammenhang zwischen der Maxhütte und der Amberger Luitpoldhütte. Beide Unternehmen besäßen gemeinsame wirtschaftliche Interessen und seien in der Produktion aufeinander angewiesen. Der Freistaat besaß an der Luitpoldhütte ebenfalls einen Anteil von 26% – die restlichen Anteile gehörten der AG für Berg- und Hüttenbetriebe Salzgitter –, hielt aber seinen Eigentumsanspruch auf das ganze Unternehmen weiterhin aufrecht.163 Die Auseinandersetzung um die Eigentumsverhältnisse der Luitpoldhütte AG endeten später, Anfang 1956, in einem Vergleich, in dem der bayerische Staat seine Sperrminorität von 26% behielt. Auch hinsichtlich der Bergrechte der Maximilianshütte wurde ein Rückverkauf kritisch gesehen, spekuliert wurde mit Blick auf das künftige bayerische Atomprogramm auf die Entdeckung und den Abbau möglicher Uran-Vorkommen im Fichtelgebirge, die dem Staat zustehen müßten.

Zwar wurden die Maxhütten-Anteile gegen die erklärte Auffassung der SPD mit Vertrag vom 4. April 1955 für einen Gesamtbetrag von 33 Millionen DM an die Flick-Gruppe verkauft, die SPD hatte aber trotzdem einen Teilerfolg zu verbuchen. Schon im Vorjahr nämlich hatte die Landtags-SPD erfolgreich Klage beim Bayerischen Verfassungsgerichtshof gegen das Haushaltsgesetz 1954 eingereicht, da darin festgelegt war, daß die Erlöse aus dem Verkauf von Staatsbeteiligungen in den allgemeinen Haushalt überführt würden.164 Konkret sollte der Erlös aus dem Verkauf der Maxhütten-Anteile in den Straßenbau investiert werden. Dies war nach Auffassung der SPD wie des Verfassungsgerichtshofes nicht verfassungskonform, da Erlöse aus der Veräußerung von Bestandteilen des Grundstockvermögens ausschließlich zu Neuerwerbungen von Grundstockvermögen verwendet werden dürften.

Eine weitere im Jahre 1955 eingeleitete staatliche Veräußerung war der Verkauf der Bavaria Film AG, mit dem die Entflechtung und Reprivatisierung des ehemals reichseigenen Filmvermögens zu einem Abschluß kam.165 Im Februar 1956, rund acht Monate nach der eigentlich in dem Bundesgesetz zur Abwicklung und Entflechtung des ehemaligen reichseigenen Filmvermögens vom 5.6.1953 gesetzten Zwei-Jahres-Frist zur Überführung des Reichs-Filmvermögens in private Hand, wurde die Bavaria an ein Käuferkonsortium verkauft.

Umgekehrt behandelte der Ministerrat auch einige Fälle von Erwerb von Grundstockvermögen, von Immobilienankäufen, die aber sämtlich nicht durchgeführt wurden. Zum Verkauf etwa stand in der Gemeinde Bernried das Schloß Höhenried, das Anwesen der 1952 verstorbenen Wilhelmina Busch-Woods, Miterbin des US-amerikanischen Braukonzerns Anheuser-Busch und Ehefrau des früheren, in München amtierenden US-amerikanischen Generalkonsuls Sam E. Woods.166 Die Gemeinde Bernried sowie auch Senatspräsident Josef Singer plädierten für den Ankauf des Anwesens durch den Freistaat; im Ministerrat selbst versuchten Kultusminister Rucker und Staatssekretär Meinzolt den Charme ihrer Überlegungen zu vermitteln, das Höhenrieder Schloß staatlicherseits für Fortbildungen und Repräsentationstermine zu nutzen. Zwar wurde das Kultusministerium dann vom Ministerrat mit der Prüfung eines Kaufs beauftragt, es überwog im Kabinett allerdings die Zurückhaltung. Das Höhenrieder Schloß wurde im Herbst 1955 an die Landesversicherungsanstalt Oberbayern verkauft, die hier in der Folge eine Kur-Einrichtung unterhielt.

Anders lagen die Verhältnisse bezüglich eines anderen Objekts – des Hotels Axelmannstein in Bad Reichenhall.167 Bereits 1952 war das im Jahre 1908 errichtete Grandhotel dem Freistaat vom Eigentümer zum Kauf angeboten worden. Nach Verhandlungen im Verlauf des Jahres 1954 legte das Staatsministerium der Finanzen zum Jahreswechsel 1954/55 den Entwurf eines Kaufvertrages vor, der auch an den Landtagsausschuß für den Staatshaushalt und Verfassungsfragen übermittelt wurde. Der Ministerrat befand sich hinsichtlich der Kaufeintscheidung in einem Dilemma – auf der einen Seite sollte der Staat sein wirtschaftliches Engagement laut Koalitionsvertrag zurückfahren, andererseits wurde der Erhalt des Luxus-Hotels für den Fremdenverkehr und den mondänen Charakter Bad Reichenhalls als unabdingbar angesehen. Der ansonsten stets sparsame Finanzminister Zietsch wie auch Wirtschaftsminister Bezold plädierten für die staatliche Übernahme des Hotels, auch mit Blick auf dessen Bedeutung für die künftige Bad Reichenhaller Spielbank, während Staatssekretär Haas, FDP-Parteifreund des Wirtschaftsministers, eine staatliche Beteiligung an dem Hotel auch im Namen seiner Gesamt-Fraktion rundweg ablehnte. Die Immobilie Axelmannstein wurde immerhin als so wichtig erachtet, daß der Ministerrat in Bad Reichenhall einen Ortstermin zur Besichtigung anberaumte. Der Ankauf scheiterte letztendlich an einem Landtagsbeschluß vom 14. Juni 1955, und das Hotel wurde an die Frankfurter Steigenberger Hotelbetriebs KG veräußert.

Ohne größere Diskussion dagegen wurde das Grundstockvermögen des Staates um ein bedeutendes mittelalterliches Kunstgut bereichert: Im Ministerrat vom 18. Januar beschloß das Kabinett, einzig gegen den verhaltenen Einspruch von Wirtschaftsminister Bezold, den Akauf des zwischen 1030 und 1050 entstandenen Echternacher Codex für das Germanische Nationalmuseum in Nürnberg.168

Einen persönlichen ‚außenpolitischen’ Erfolg konnte Ministerpräsident Hoegner mit der von ihm initiierten Novellierung der bayerisch-österreichischen Salinenkonvention vom 18. März 1829 verbuchen.169 Diese Konvention regelte als zwischenstaatliches Abkommen den Salzbergbau im bayerisch-österreichischen Grenzgebiet und die Holzwerbung im Pinzgau im Westen des Salzburger Landes und bestimmte im Grundsatz, daß Bayern rund ein Drittel seines früheren Land- bzw. Waldbesitzes auf österreichischer Seite unwiderruflich als Eigentum erhielt, Österreich dafür unter Tage im Bereich des Dürrnberges unter bayerischem Staatsgebiet Salzförderung betreiben durfte. Auch enthielt die Konvention Bestimmungen zur gegenseitigen Zoll-, Abgaben- und Steuerfreiheit. Da nach 1945 der bayerische Waldbesitz in Österreich von den Aliierten unter treuhänderische Verwaltung gestellt wurde, kam das Abkommen nur noch zur einseitigen Anwendung. Österreich förderte weiterhin Salz, die Holzlieferungen nach Bayern blieben jedoch aus. Nachdem die ersten bayerischen Nachkriegsregierungen das Thema der bayerischen Saalforsten und der Salinenkonvention aus Furcht vor möglichen alliierten Enteignungsabsichten bewußt in der Schwebe gehalten hatten, ergriff Wilhelm Hoegner im Jahre 1955 die Gunst der Stunde. Nach dem Ende der Besatzungsherrschaft in Westdeutschland und nach Abschluß des österreichischen Staatsvertrages vom 15. Mai 1955, durch den auch die Republik Österreich die Souveränität zurückerlangte, trat der bayerische Ministerpräsident über seine sozialdemokratischen Parteifreunde in Wien in konkrete Verhandlungen ein. Nach anfänglicher Zurückhaltung der österreichischen Seite und dann vor allem gegen den Widerstand der Adenauer-Regierung in Bonn, die auf ihre alleinige Zuständigkeit in außenpolitischen Fragen pochte, kam nach längeren Verhandlungen im Jahre 1956 das revidierte Abkommen zwischen dem Freistaat Bayern und der Republik Österreich über die Anwendung der Salinenkonvention vom 25. März 1957 zustande.

Salinenkonvention

Einen deutlich breiteren Raum als in den Vorjahren nehmen in den Beratungen des Ministerrat im Regierungsjahr 1955 Fragen der politischen Bildung, der demokratischen Erziehung sowie – hiermit im Zusammenhang stehend – auch die Bekämpfung des politischen Extremismus ein.

Der Ausbau der staatsbürgerlichen und demokratischen Erziehung sowie die Förderung der Erwachsenenbildung war in der Koalitionsvereinbarung vom Dezember 1954 festgelegt, es handelte sich hier aber um ein Projekt, das insbesondere von der SPD bereits seit 1946 verfolgt worden war.170 Vor allem war dies ein persönliches Anliegen Waldemar von Knoeringens, der schon 1946 mit zwei Denkschriften zur institutionalisierten politische Bildungsarbeit hervorgetreten war. Nachdem 1952 die Bundeszentrale für Heimatdienst gegründet worden war und die Länder sich 1954 zur Gründung von Einrichtungen zur Förderung und Pflege der staatsbürgerlichen Bildung verpflichtet hatten, erhielt der Freistaat als letztes Land der Bundesrepublik seine mit der Verordnung über die Errichtung einer Bayerischen Landeszentrale für Heimatdienst vom 11. November 1955 errichtete politische Bildungszentrale.171 Auch die Gründung dieser Einrichtung, die ab 1964 in „Bayerische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit“ umbenannt wurde, geriet für die Viererkoalition erneut zu einem Politikum. Wieder holten die Regierung die kulturpolitischen Auseinandersetzungen aus dem Wahlkampf ein. Der designierte Geschäftsführer der neuen Landeszentrale für Heimatdienst, der junge Verlagsmitarbeiter, Publizist und Politikwissenschaftler Thomas Ellwein, hatte in einem im Herbst 1955 veröffentlichten Buch mit dem Titel „Klerikalismus und Kirche“ in einem Kapitel auch die bayerische Schulpolitik nach 1945 und die Frage der Lehrerbildungsreform behandelt, was unmittelbar vor seinem Amtsantritt als Landesstellenleiter zum 1. Dezember 1955 zu Protesten von Seiten der Katholischen Kirche führte – dies wurde zwar im Ministerrat besprochen, dann aber nicht weiter verfolgt.172

Staatsbürgerliche Bildung, demokratische Erziehung und der Kampf gegen verfassungsfeindliche Bestrebungen waren, wie eine Reihe von Tagesordnungspunkten der Ministerratssitzungen 1955 belegen, für die Regierung nach wie vor durchaus tagesaktuelle Fragen. Im Ministerrat vom 28. Dezember 1954 behandelte das Kabinett eine Liste verfassungsfeindlicher Organisationen, die vom Innenministerium gemäß den Bestimmungen des bayerischen Polizeiaufgabengesetzes (PAG) vom Oktober 1954 in Verbindung mit dem Artikel 9 Abs. 2 des Grundgesetzes zusammengestellt worden war.173 Die Staatsregierung war sich aber dessen bewußt, daß diese Liste in weiten Teilen mit dem mittelfristig zu erwartenden Verbot der KPD – das vom Bundesverfassungsgericht im Jahre 1956 ausgesprochen wurde – obsolet werden würde. Wiederholt hatte sich die Staatsregierung im Jahre 1955 aber weiterhin mit Angriffen und Beleidigungen von Seiten der kommunistischen Presse auseinanderzusetzen.174 Ein wichtiges Thema war ferner die Kinderverschickung in die DDR – von bundesdeutschen Kommunisten organisierte Ferienaufenthalte in der Sowjetischen Besatzungszone. In Bayern waren von diesen kommunistischen Werbemaßnahmen betroffen vor allem die einkommenschwachen Gebiete Oberfrankens,175 aber auch bundesweit gab es entsprechende Angebote seitens der DDR-Regierung.176 Die Staatsregierung strebte an, diese Ferienreisen nach Möglichkeit zu unterbinden und suchte nach Wegen, die sogenannte Erholungsfürsorge für Kinder durch den Freuistaat zu fördern – stieß hier vorerst allerdings auf Finanzierungsprobleme.177 Weiterhin verboten blieben die Auftritte sogenannter „Kulturgruppen“ aus der DDR, in deren Aktivitäten eine „Gefahr der Infiltration in der Bundesrepublik“ gesehen wurde.178

Rechtsextremismus Regelmäßiger noch wurde im Ministerrat die Bedrohung aus dem rechten politischen Spektrum behandelt – wenn auch in der Sache nicht immer konsequent. Zweimal diskutierte das Kabinett beleidigende Äußerungen von Vertretern der Deutschen Reichspartei, einer in Bayern erst seit 1953 – dem Jahr nach dem Verbot der Sozialistischen Reichspartei durch das Bundesverfassungsgericht – aktiven rechtsextremen Partei.179 Im Falle eines Beschäftigten der Landeshauptstadt, der sich nach wie vor zum Nationalsozialismus bekannte und dessen Verhalten von der Stadt München der Staatsregierung gemeldet worden war, beschloß das Kabinett, wegen der „Äußerung eines unbelehrbaren Nationalsozialisten nichts unternehmen“ zu wollen.180 Bemerkenswert kulant zeigte sich Ministerpräsident Hoegner auch bei der Entscheidung, „auf Anregung von angesehenen Bürgern der Stadt Bayreuth“ die frühere Leiterin der Bayreuther Wagner-Festspiele, Winifred Wagner, NSDAP-Mitglied seit 1926 und nach dem Befreiungsgesetz zunächst als Belastete eingestuft, zum Staatsempfang in Bayreuth am 22. Juli 1955 einzuladen.181 Anders gelagert war dann jedoch der Fall des damaligen Präsidenten des Bayerischen Luftsportverbandes: Max Primbs war seit 1939 NSDAP-Kreisleiter in Innsbruck gewesen, nach dreijähriger Haftzeit gelang ihm 1948 die Flucht aus dem Gefängnis nach Deutschland, wo er trotz eines österreichischen Haftbefehls wegen Mißhandlung politischer Gefangener unbehelligt lebte. Gegen Primbs sprach Ministerpräsident Hoegner gewissermaßen ein Kontaktverbot aus.182

Zwei prominente NS-Fälle, die im Ministerrat behandelt wurden, waren im Jahre 1955 die Rückkehr des früheren Generalfeldmarschalls Ferdinand Schörner sowie der Prozeß gegen den SS-Kommandanten Max Simon. Ferdinand Schörner war Ende 1954 aus gesundheitlichen Gründen aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft entlassen worden und im Januar 1955 über die DDR unter großem Medienintresse und lauter öffentlicher Kritik wieder nach München zurückgekehrt.183 Die Generalstaatsanwaltschaft München leitete gegen Schörner umgehend ein Ermittlungsverfahren wegen NS-Gewaltverbrechen ein, das 1957 zu einer Verurteilung führte; neben diesem strafrechtlichen Verfahren lief auch noch eine juristische Auseinandersetzung um den Heimkehrerstatus Schörners. Dieser hatte sowohl beim Freistaat wie beim Bund auf Grundlage des Gesetzes zur Regelung der Rechtsverhältnisse der unter Artikel 131 des Grundgesetzes fallenden Personen vom 11. Mai 1951 Heimkehrerentschädigung und Pensionsansprüche geltend gemacht.

Einen Justizskandal stellte für die Staatsregierung das Urteil des Landgerichts Ansbach vom 19. Oktober 1955 in der Mordanklage gegen den früheren SS-Offizier Max Simon dar.184 Verhandelt worden waren die sogenannten Brettheimer Morde, die standgerichtliche Hinrichtung dreier Bürger des württembergischen Ortes Brettheim Anfang April 1945; das Verfahren endete in einem Freispruch für Simon und drei weitere Angeklagte. Der Prozeß stand wegen der Verfahrensführung des zuständigen Richters Andreas Schmidt, NSDAP-Mitglied seit 1927 und ab 1929 NSDAP-Stadtrat in Deggendorf, von Anbeginn bis Ende in der Kritik. Das Urteil veranlaßte Ministerpräsident Hoegner zu einer scharfen Stellungnahme im Rundfunk, und Justizminister Koch äußerte sich in der Sache gleichlautend auf einer Richtertagung in Würzburg. Der kritisierte Landgerichtsdirektor Schmidt erhob daraufhin Klage gegen Ministerpräsident Hoegner wegen Beleidigung und übler Nachrede; die Klage und der gleichzeitige Antrag auf Aufhebung der Immunität des Ministerpräsidenten wurden jedoch vom Staatsministerium der Justiz abschlägig beschieden.185 Ein weiterer im Ministerrat kurz behandelter NS-Prozeß war der sogenannte Huppenkothen-Prozeß in Augsburg; besprochen wurde hier das aus Sicht Wilhelm Hoegners fragwürdige Verhalten des Verteidigers, des CSU-Politikers Alfred Seidl.186

Mit Blick auf die Auseinandersetzungen mit dem rechten politischen Spektrum war ein gewisser Sonderfall in den Ministerratsprotokollen 1955 die Personalie Emil Franzel.187 Franzel war Bibliothekar im bayerischen Staatsdienst, trat aber auch als Publizist und Vertreter der westdeutschen konservativ-katholischen Abendland Bewegung in Erscheinung, die durchaus demokratiekritische, antiliberale und ständestaatliche Positionen vertrat. Besonders an der Causa Franzel war, daß sein Fall von außen an die Staatsregierung herangetragen wurde: Das Büro des SPD-Parteivorstandes hatte ein 66-seitiges Exposé mit einer umfangreichen Sammlung vermeintlich demokratiefeindlicher Äußerungen Franzels an den bayerischen Ministerpräsidenten gesandt, verbunden mit der Aufforderung um Bereinigung der Angelegenheit und um Mitteilung, welche „Möglichkeit der Ausschaltung von Dr. Franzel aus dem Staatsdienst“ gesehen werde. Von einer dienst- oder strafrechtlichen Behandlung der Causa Franzel sah die Staatsregierung in der Folge dann allerdings ab.

Rechtsextremismus

Naturschutz Wie Wilhelm Hoegner in seinen Erinnerungen betont, war ihm als Ministerpräsident der Naturschutz ein „Herzensanliegen“.188 Hoegner war der Schöpfer des ‚Schwammerlparagraphen’, des Artikels 141 des Bayerischen Verfassung vom Dezember 1946, der den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen postulierte und jedem Bürger den Genuß der Naturschönheiten Bayerns garantierte. Natur- und Umweltschutzfragen standen 1955 im Ministerrat wiederholt auf der Tagesordnug. Einmalig beraten wurden die Zustände in der Pupplinger Au bei Wolfratshausen, die bereits zur Innenministerzeit von Wilhelm Hoegner zum Natur- und Landschaftsschutzgebiet erklärt worden war.189 Erörtert wurden hier vom Kabinett Maßnahmen zum besseren Schutz der dortigen empfindlichen Flora, die durch starke Besucherfrequenz und illegales Verhalten gefährdet wurde.

Mit Blick auf andere Naturschutzfragen offenbarten sich dann in mehr als einem Falle Zielkonflikte zwischen der Haltung des Ministerpräsidenten und energie- und industriepolitischen Interessen, die vor allem vom Staatsministerium des Innern und vom Staatsministerium für Wirtschaft und Verkehr vertreten wurden. Betroffen waren hier insbesondere die Fragen der Wasserkraft und der Rohstoffabbau in Bayern. Nach wie vor spielte der Ausbau der Elektrizitätsgewinnung aus Wasserkraft im Freistaat eine herausragende Rolle. Eingeweiht wurde und in Vollbetrieb ging am 2. Juli 1955 etwa das deutsch-österreichsche Donaukraftwerk Jochenstein,190 fortgesetzt wurde der Kraftwerksausbau an der Unteren Isar191 oder einer Innstufe bei Rosenheim.192

Häufig – in insgesamt zehn Sitzungen – und höchst kontrovers diskutiert wurde jedoch der Ausbau des oberen Lechs bei Schongau durch die Bayerische Wasserkraft AG.193 Nach dem Ausbau des unteren Lechs zwischen 1940 und 1950 sowie der Fertigstellung des Roßhauptener Speichers im Jahre 1954 sollte nun der Staustufenbau im Flußabschniutt zwischen Lechbruck und Schongau in Angriff genommen werden. Strittig war die Notwendigkeit zweier Wehranlagen im Bereich eines ausgewiesenen Naturschutzgebietes zwischen Roßhaupten und Schongau, der Flußabschnitt der „Litzauer Schleife“. Innenminister Geislhöringer vermochte die schweren Bedenken und Einwände bayerischer Naturschutzverbände nicht zu teilen, wie er im Ministerrat verlauten ließ: „Bei allem Veständnis für den Naturschutz halte er es aber nicht für richtig, den Ausbau der Wasserkräfte in Bayern zu verhindern.“ Ministerpräsident Hoegner dagegen mochte nicht „einsehen, warum gerade die schöne Flußlandschaft bei Schongau zerstört werden solle“ und erklärte, „seine Bedenken seien nicht beseitigt.“ Im Ministerrat vom 28. Juni vereinbarte das Kabinett einen Ortstermin am Lech,194 der am 14. September durchgeführt wurde. Im Ergebnis tendierte der Ministerrat gegen die Einwände der beiden Staatsminister Geislhöringer und Bezold zu einem Verzicht auf eine der beiden, im landschaftlich wertvolleren Abschnitt gelegenen Staustufen. Denn, so Ministerpräsident Hoegner: „Zweifellos handle es sich hier um das letzte Stück bayerischer Urlandschaft, also um ein ideelles Gut, das durch die Verfassung geschützt sei und unbedingt erhalten werden müsse.“195 Man einigte sich schließlich auf die Erstellung eines Gutachtens durch die Oberste Baubehörde, die im Ergebnis und als vom Ministerrat akzeptierte Kompromißlösung im Sinne des Naturschutzes eine deutliche Verringerung der Stauhöhen der Kraftstufen vorschlug.196 Diese Bedingungen jedoch wurden in der Folge vom Aufsichtsrat der BAWAG als unannehmbar bezeichnet und ein weiteres Interesse am Lech-Ausbau von seiten der Elektrizitätswirtschaft nicht aufrecht erhalten. Ministerpräsident Hoegner wiederum, in Naturschutzfragen wenig konfliktscheu, lehnte es kategorisch ab, „sich von dem Aufsichtsrat der BAWAG unter Druck setzen zu lassen“, das Unternehmen „könne sich nicht einfach über den bayerischen Staat hinwegsetzen“.197 Nach weiteren langjährigen Auseinandersetzungen wurde schließlich in den Jahren 1959/60 nur eine Kraftstufe oberhalb Schongaus errichtet, auf den Bau der weiterhin hochumstrittenen Kraftstufe bei der „Litzauer Schleife“ verzichtete die BAWAG endgültig im Jahre 1963.

Einen weiteren umweltpolitischen Streitpunkt zwischen Ministerpräsident Hoegner und seinem Wirtschaftsminister Bezold gab es hinsichtlich der Erschließung von Bodenschätzen, konkret: dem Quarzitabbau im Pfahl bei Viechtach.198 Mit Verweis auf die Bedürfnisse der chemischen Industrie in Bayern beantragte Staatsminister Bezold, für diesen im Bereich Viechtach unter Naturschutz stehenden Teils des rund 150 km langen, vom oberpfälzischen Schwarzenfels bis in das österreichische Mühlviertel laufenden Quarzriffs eine Abbaugenehmigung zu erteilen. In dieser Frage, die auch im Folgejahr 1956 wiederholt im Ministerrat behandelt werden sollte, zeigte sich Ministerpräsident Hoegner unnachgiebig. Als im Ministerrat vom 28. Mai 1956 das Gerücht behandelt wurde, eine Baufirma habe ohne Genehmigung mit dem Quarzabbau in Viechtach begonnen, erklärte Wilhelm Hoegner „vor dem Ministerrat ausdrücklich, daß der Pfahl nicht angetastet werden dürfe, solange er bayerischer Ministerpräsident sei, und daß er notfalls die Bereitschaftspolizei zum Schutze dieses einzigartigen Naturdenkmals einsetzen werde.“199

Völlig ablehnend zeigte sich Ministerpräsident Hoegner auch gegenüber den Plänen der Verwaltung des Herzog Luitpold von Bayern, am Westufer des Starnberger Sees, im Landschaftsschutzgebiet zwischen Possenhofen und dem Forsthaus am See, rund zehn Hektar Grund parzellenweise als Baugrundstücke zu veräußern.200

Aus den bisherigen Ausführungen zu fast jedem relevanten politischen Thema des Regierungsjahres 1955 deutet sich an bzw. es wird vielmehr sehr offensichtlich: Sachliche Auseinandersetzungen im Kabinett, Kompetenzstreitigkeiten, auch persönliche Konflikte nehmen im Vergleich zu früheren Jahren spürbar zu – sowohl innerhalb der Regierung wie auch in deren Beziehung zu anderen, außenstehenden Akteuren. Die politische Kultur innerhalb der Staatsregierung hatte sich spürbar verändert, und anders als unter der Minsiterpräsidentenschaft von Hans Ehard kostete es seinen Nachfolger Wilhelm Hoegner phasenweise wohl erhebliche Mühe, die Kabinettsdisziplin aufrecht zu erhalten.201

Schon nach rund sechs Wochen Amtszeit der neuen Regierung sah sich Wilhelm Hoegner im Ministerrat vom 1. Februar 1955 gezwungen, vor Eintritt in die Tagesordnung darauf zu verweisen, daß der Ministerpräsident in Bayern die Richtlinien der Politik bestimme. Mit Blick auf die Koalitionsvereinbarung sei jede eigenständige Themensetzung von seiten der übrigen Regierungsmitglieder zu vermeiden. Eine Woche darauf dann hielt Hoegner vor seinen Kabinettskollegen ein ausführliches juristisches Grundsatzreferat über die Richtlinienkompetenz des Ministerpräsidenten – unter Heranziehung der einschlägigen Kommentare zur Bayerischen Verfassung, Weimarer Reichsverfassung und Grundgesetz.202 Anlaß waren unter anderem Äußerungen von Finanzminister Zietsch zur Aufhebung von Finanzämtern oder von Staatssekretär Eilles zur Auflösung oder Zusammenlegung von Gerichten. „Er sehe sich genötigt“, so Hoegner, „diese Erklärung abzugeben, weil die Richtlinien der Politik, wie er sie als Ministerpräsident auffasse, darin bestünden, vor allem die Koalitionsvereinbarungen einzuhalten. Damit sei klargelegt, daß die Einheitlichkeit der Richtlinien gewahrt bleiben müsse und es nicht angehe, daß Mitglieder des Kabinetts Ausführungen machten, die mit eben diesen Richtlinien nicht zu vereinbaren seien und dem Ministerpräsidenten größte Schwierigkeiten bereiteten.“

In gewisser Hinsicht ein disziplinarisches Sorgenkind im Kabinett war Innenminister August Geislhöringer, dessen impulsives Verhalten auf dem politischen Parkett dem Ministerrat bei mehr als einer Gelegenheit Anlaß zu Kritik gab. Der Hang Geislhöringers zu eigenmächtigen Entscheidungen und politischen ad-hoc-Aktionen wurde oben bereits im Zusammenhang mit der Konzessionierung der Spielbanken beschrieben. Die Kommunikationsstrategie des Innenministers war dabei nicht nur regierungsintern problematisch, sondern entfaltete wiederholt auch eine dezidiert negative Außenwirkung. So hatte Geislhöringer in einer Rundfunkrede vom 22. Juni 1955 im Zusammenhang mit der Spielbankenfrage dem Bayerischen Senat eine Unkenntnis der Bayerischen Verfassung und durchsichtige politische Motive unterstellt, was den Senat zu einer förmlichen Zurückweisung dieser Vorwürfe veranlaßte. Damit sei er als Ministerpräsident, so Wilhelm Hoegner im Ministerrat, in eine schwierige Lage gekommen, da seine vorausgegangenen persönlichen Vermittlungsversuche wieder zunichte gemacht worden seien und „nun ein völlig überflüssiger Streit mit dem Senat verewigt“ werde.203 Ebenfalls im Rundfunk griff August Geislhöringer am 7. Dezember 1955 im Zusammenhang mit dem Spielbanken-Ausschuß des Bayerischen Landtags die CSU in einer solchen Form an, daß die 84 CSU-Landtagsabgeordneten am 13. und 14. Dezember den beiden letzten Landtagssitzungen vor Weihnachten aus Protest geschlossen und demonstrativ fernblieben.204 Ministerpräsident Hoegner mußte seine Regierungsmannschaft zum vollständigen Erscheinen im Landtag anhalten, so daß keinesfalls die Beschlußfähigkeit des Parlaments angezweifelt werden konnte und so die von der CSU erhoffte Wirkung ihres Auszugs politisch verpuffte.

Weiterhin ein Problem für die Arbeit des Kabinetts bzw. ein Ärgernis für Ministerpräsident Hoegner waren gehäuft vorkommende Indiskretionen. Bei mehr als einer Gelegenheit waren Inhalte oder Ergebnisse der Regierungsberatungen an den Landtag oder an die Presse gelangt, obwohl die Ministerratssitzungen ja im Grundsatz geheim waren.205 Wenn es sich hierbei auch nicht um einen Ministerrat handelte – die Ergebnisse beispielsweise der Unterredung mit dem Beauftragten des Bundeskanzlers für Sicherheitsfragen, Blank, am 23. März 1955 fanden ohne Wissen der Staatsregierung vorzeitig Eingang in die Berichterstattung,206 und auch über das geplante Sonderleistungs- und Investitionsprogramm der Regierung gelangten Details vorzeitig an die Öffentlichkeit, womit, so die kritische Warnung Hoegners, vorzeitig unrealistische Erwartungen an die Staatsregierung geweckt werden könnten.207

Auch über den Außerordentlichen Ministerrat vom Abend des 17. Januar 1955, in dem der Verkauf der staatlichen Anteile an der Maxhütte beraten wurde, war im Münchner Merkur vom 19. Januar über Ergebnisdetails berichtet worden.208

Das Verhältnis der Koalitionsregierung zur Presse war insgesamt angespannt. Bereits erwähnt wurden die wegen der Lehrerbildungsfrage vorgebrachten Angriffe der katholischen Bistumspresse auf die Staatsregierung oder die Anfeindungen von kommunistischen Blättern. Auch die Opposition im Landtag übte über die „CSU-Correspondenz“ regelmäßig massive Kritik, etwa in einem von einem Mitarbeiter des Statistischen Landesamtes verfaßten Artikel vom 6. Januar 1955, der aufgrund eigener Berechnungen und einer durchaus eigenwilliger Interpretation des Wahlrechts eine de-facto CSU-Landtagsmehrheit zu konstruieren versuchte und der Viererkoalition somit ihre demokratische Legitimation absprach.209

Auch bezüglich der Rolle Bayerns im Bundesrat sparte die CSU-Correspondenz nicht mit harscher Kritik und beklagte das „Schwindende Bayerische Ansehen“.210

Verunglimpfung ders./Beleidigungsverfahren Generell ist festzustellen: Die Pressekritik – nicht nur der parteigebundenen Oppositionszeitungen – an der Staatsregierung, aber insbesondere auch an Ministerpräsident Hoegner persönlich besaß im Jahre 1955 eine außergewöhnliche Qualität. Der oberfränkische CSU-Mitbegründer, frühere Landtagsabgeordnete und von 1949–1951 Geschäftsführer des Instituts zur Erforschung der Geschichte des Nationalsozialismus, Gerhard Kroll, etwa bezeichnete die Viererkoalition im „Bamberger Tagblatt“ als „Panoptikum“, woraufhin der Ministerrat beschloß, gegen Kroll – der 1951 auch Mitbegründer der konservativen „Abendländischen Akademie“ und Herausgeber der Zeitschrift „Neues Abendland“ war – Strafantrag zu stellen.211 In einem anderen Falle dagegen verzichtete die Staatsregierung auf die strafrechtliche Verfolgung eines Redakteurs: In der Ausgabe des Regensburger Tages-Anzeigers vom 12. Januar 1955 war die Viererkoalition als „volksfremde Staatsstreichregierung“ bezeichnet worden. Über den Regensburger Tages-Anzeiger, einem CSU- und kirchennahen Blatt, führte Ministerpräsident Hoegner 1955 auch einen öffentliche Schlagabtausch mit Bundesfinanzminister Fritz Schäffer. Dieser hatte Wilhelm Hoegners frühere Haltung in der Entnazifizierungsfrage kritisiert, Hoegner habe ferner als Ministerpräsident im Jahre 1945/46 die Trennung von Staat und Kirche und die Abschaffung der Konfessionsschule vorantreiben wollen, und vor allem wiederholte Schäffer sein fortgesetzt verbreitetes, aus den Quellen aber nicht belegbares Narrativ, seine eigene Absetzung als Ministerpräsident knapp zehn Jahre zuvor, am 28. September 1945, sei auf ein Komplott seiner politischen Gegner sowohl aus dem bürgerlichen wie dem linken Lager wie auch auf Wilhelm Hoegners persönliches Betreiben zurückzuführen.212 Eine weitere Diffamierung mußte Ministerpräsident Hoegner durch das Nürnberger „8 Uhr Blatt“ hinnehmen, das in seiner Ausgabe vom 11. März 1955 in einem Beitrag zur Saarfrage die Behauptung aufgestellt hatte, „daß es die gleichen Männer waren“ – gemeint war Ministerpräsident Hoegner –, „die heute sich so sehr gegen das Saarstatut stark machen, die damals Bayern aus dem Verband des deutschen Bundes lösen und an Frankreich ‚verschachern’ wollten.“213

Ein besonderes Ereignis in der bayerischen Presselandschaft war 1955 die von der Viererkoaltion vollzogene organisatorische Erneuerung der „Bayerischen Staatszeitung, die zwölfmal auf der Tagesordnung des Ministerrats stand.214 Auslöser war der kontinuierliche Auflagenrückgang der im Jahre 1912 gegründeten, 1934 eingestellten und 1950 wieder neugegründeten Bayerischen Staatszeitung. Durch einen Wechsel von dem kleinen Münchener Pflaum-Buchverlag hin zu einem größeren und leistungsfähigeren Verlagshaus, so die initiale Überlegung, sollten das Erscheinungsbild der Staatszeitung ansprechender und moderner gestaltet sowie die Vertriebswege erweitert werden.215 Gleichzeitig wollten die Koalitionsparteien aber auch die Gelegenheit ergreifen, die Staatszeitung zu ihrer eigenen Verkündungsplattform zu machen: Es herrschte die Überzeugung, „daß gerade eine Koalitionsregierung eines Organs bedarf, das bei der Unterschiedlichkeit mancher politischer Grundsätze der beteiligten Partner die vorhandenen Gemeinsamkeiten, auf denen ihre Zusammenarbeit basiert, betont und den Staatsbürgern ständig ins Bewußtsein rückt. Übereinstimmend ist man jedoch der Ansicht, daß die Bayerische Staatszeitung, wenn sie diese Aufgabe wirksam erfüllen soll, eine gewisse Umgestaltung erfahren muß.“ Die neue Staatszeitung sollte nach dem Willen der Koalitionäre zum einen das politische Klima im Lande widerspiegeln, das Vertrauen in die Regierung stärken und die Regierungspolitik in offiziöser Form darstellen, zum anderen aber eben auch dezidiert als „Instrument der Viererkoalition deren Wirkung in der Bevölkerung zu vertiefen und die Ziele ihrer Politk so zu interpretieren, daß sie das notwendige Echo finden.“216

Die Trennung vom Pflaum-Verlag erfolgte sehr zügig,217 wenn die Kündigung freilich auch erst nach einer Einigung in einem verlagsseitig angestrebten Schiedsverfahren juristisch gültig wurde.218 Als neue Partner wurden die Verlage der Süddeutschen Zeitung und des Münchner Merkur gewonnen, die für den Druck und die Herausgabe der Staatszeitung eine neue Gesellschaft, den „Verlag Bayerische Staatszeitung GmbH“, gründeten.219 Als Problem für die Staatsregierung sollte sich bei der Neuaufstellung der Staatszeitung jedoch die Personalie des Chefredakteurs erweisen.220 Der bisherige Redaktionschef Josef H. Mauerer hatte im Münchner Merkur vom 1. August 1955 unter Pseudonym einen Artikel über die Atomforschung in Bayern veröffentlicht und darin auch Kritik an der Staatsregierung geübt. Der Ministerrat sah daher keine Grundlage mehr für eine weitere vertrauensvolle Zusammenarbeit und votierte dafür, Mauerer nicht in den neuen Verlag zu übernehmen. Die Suche nach einem qualifizierten Nachfolger gestaltete sich allerdings als nicht einfach, auch sprachen sich die neuen Herausgeber der Staatszeitung für eine Weiterbeschäftigung Mauerers aus, so daß dieser für noch knapp zwei weitere Jahre die redaktionelle Leitung der Staatszeitung innehatte, bevor er als Redakteur zum Bayerischen Rundfunk wechselte.

Das vorangegangene Beispiel der Neuausrichtung der Staatszeitung verweist auf ein weiteres Thema des Regierungsjahres 1955, das im Vergleich zu früheren Ministerratsprotokollen spürbar in den Vordergrund rückt beziehungsweise deutlich an Brisanz gewinnt: Es handelt sich um Personalangelegenheiten bzw. konkret darum, daß Personalentscheidungen nun vermehrt zu einem Politikum werden und die Personalpolitik der Regierung auch umgehend in den kritischen Fokus der Opposition geriet. Schon am 10. Januar 1955 sah sich die Regierung mit einer Interpellation der Landtags-CSU konfrontiert, die Aufklärung über Äußerungen Wilhelm Hoegners auf einer Pressekonferenz vom 15. Dezember 1954 forderte: Hoegner hatte hier eine in der Vergangenheit „einseitige, im Sinne der CSU eingestellte Personalpolitik“ in den Ministerien angedeutet und die für die neue Regierung problematische konservative Gesinnung vieler Ministerialbeamter betont.221 Diese Stellungnahme des Ministerpräsidenten war sicherlich ungeschickt formuliert, aber wohl auch mißverständlich wiedergegeben worden. Hoegner konnte die CSU-Interpellation nach Verhandlung mit dem CSU-Fraktionsvorsitzenden Meixner abwenden, indem er sich zu einer Erklärung und Klarstellung vor dem Landtag bereit erklärte. Die Disziplinierung der höheren Beamtenschaft war für die neue Regierung jedoch tatsächlich ein zentrales Thema. Ausgelöst durch einen Rundfunkbeitrag von Ministerialdirektor Georg Heilmann vom Staatsministerium für Wirtschaft und Verkehr, der darin unter anderem den Landesentwicklungsplan öffentlich als „Makulatur“ bezeichnet hatte,222 beschloß der Ministerrat eine Bekanntmachung über Rundfunkreden von Beamten, der zufolge „in Zukunft Angehörige der Staatsministerien, welche dienstliche, die Zielsetzungen der Staatsregierung berührende Angelegenheiten in Presse, Vortrag oder Rundfunk behandeln wollen, diese vorher dem Minister ihres Geschäftsbereiches zur Kenntnisnahme vorzulegen haben“.223 Dieser von der CSU, aber etwa auch von katholischer Seite224 umgehend als „Maulkorberlaß“ und „Vorzensur“ bezeichnete Beschluß des Ministerrats war in der Landtagssitzung vom 11. Mai 1955 Gegenstand einer erneuten CSU-Interpellation.

Für erheblichen Wirbel und für eine weitere Interpellation der CSU-Fraktion im Bayerischen Landtag sorgte ferner der zum 3. Oktober 1955 erlassene neue Geschäftsverteilungsplan des Staatsministeriums für Unterricht und Kultus.225 Betroffen von der neuen Aufgabenverteilung, von Versetzungen und auch von Kompetenzbeschränkungen war eine Reihe von höheren Kultusbeamten, unter anderem auch der rangälteste und bisher höchste Ministerialbeamte im Kultusministerium, Ministerialdirektor Josef Mayer. Während die Staatsregierung die Umorganisation im Kultusministerium als einen rein sachlich begründeten Schritt bezeichnete, vermutete die CSU, daß hohe Beamte – denen eine Nähe zur CSU oder zur katholischen Erziehergemeinschaft unterstellt werde – aus weltanschaulichen und ideologischen Gründen degradiert würden. Ganz aus der Luft gegriffen schienen die Argumente der Opposition dabei wohl nicht, die Reform der Personalzusammensetzung in den Ministerien hatte durchaus von Anfang an auf der Agenda der Viererkoalition gestanden. Eine leider ungezeichnete und undatierte maschinenschriftliche Notiz im Nachlaß Hoegner zu den Koalitionsverhandlungen etwa führt unter der Überschrift „Freiheitliche Kreise wünschen Universitätsprofessor Dr. W. Gerlach als Kultusminister“ aus, daß es dringend geboten sei, „die Klüngelwirtschaft auf dem Sektor der Philologen zu beseitigen, den aufgeblasenen ‚schönen Mann’ Keim abzuschieben und den guten, aber schwachen Elmenau durch einen entschlosseneren Mann zu ersetzten.“226

Festgehalten wurde von Ministerpräsident Hoegner an dem Bayerischen Bevollmächtigten Bayerns beim Bund, Ministerialdirektor Claus Leusser. Allerdings wurde in Bonn bei der Stelle des Bevollmächtigten Bayerns beim Bund ein Mitarbeiter – Heinz von Dessauer – installiert, der Ministerpräsident Hoegner regelmäßig vertrauliche Berichte aus Bonn zukommen ließ.227

Ein drängendes Problem für die Staatskanzlei war die Personalie des Oberregierungsrats Ernst Deuerlein. Der Historiker Deuerlein, später ab 1970 Professor für Geschichte an der Universität München, war in der Staatskanzlei ab 1950 der wichtigste Redenschreiber für Ministerpräsident Hans Ehard gewesen, ferner auch Stellvertreter des bisherigen Staatskanzleileiters Karl Schwend in der politischen Abteilung der Staatskanzlei. Für einen Mann von Deuerleins beruflichem und weltanschaulichen Profil gab es nach dem Regierungswechsel in der Staatskanzlei keine Weiterverwendung. Der Ministerrat diskutierte, ob man Ernst Deuerlein im Institut für Zeitgeschichte unterbrigen könne, oder ihn an die Kommission für bayerische Landesgeschichte abzuordnen mit dem Auftrag, eine Ortsgeschichte Bayerns neu herauszugeben.228 Nachdem sich hier keine Lösung abzeichnete, erwog der Ministerrat, den Beamten Deuerlein in den Wartestand zu versetzen,229 bevor schließlich seine Abordnung an die Regierung von Oberbayern erfolgte.230

Im November 1955 beschloß der Ministerrat, den Staatskommissar für den sogenannten 160er Ausschuß für Fragen des ‚Sozialisierungsartikels’ 160 der Bayerischen Verfassung, Heinrich Emmert, aus Kosten- wie Effizienzgründen zu entlassen.231 Emmert bezog die Vergütung eines Regierungsdirektors, gleichzeitig hatte die Arbeit des 160er-Ausschusses aber lange Zeit geruht. Zusätzlich war Emmert auch Staatsbeauftragter für Grenzlandfragen im Wirtschaftsministerium. Entgegen der Forderung einiger Stimmen aus dem Landtag, die eine Fortsetzung seiner Arbeit gefordert hatten, schied Emmert im März 1956 als Staatskommissar aus.

Anders gelagert waren das Interesse und die Haltung der Staatsregierung bezüglich des Präsidenten der Bayerischen Bereitschaftspolizei, Josef Remold. Diesem war vom Bundesinnenministerium die Stelle des Inspekteurs der Deutschen Bereitschaftspolizei angeboten worden.232 Um Remold in Bayern zu halten, beschloß der Ministerrat gegen die Stimme des Finanzministers, der diesen Schritt für einen unüblichen und beamtenrechtlich nicht begründbaren Präzedenzfall hielt, die Präsidentenstelle der Bayerischen Bereitschaftspolizei in die Besoldungsgruppe B 9 zu heben.233

Ungewohnter Widerstand wurde der Staatsregierung im Zusammenhang mit der Ernennung des Regierungspräsidenten von Schwaben234 und des Regierungsvizepräsidenten von Niederbayern entgegengebracht. Sowohl bei der Berufung von Ministerialrat Michael Fellner zum Regierungspräsidenten in Augsburg wie von Ministerialrat Ludwig Hopfner – beide aus dem Innenministerium – zum Regierungsvizepräsidenten von Niederbayern nämlich brachten die Bezirkstage von Schwaben und Niederbayern Einwände vor bzw. reklamierten für sich ein Mitspracherecht.235 Der Augsburger Bezirkstag etwa hatte die Forderung erhoben, aus drei Kandidatenvorschlägen des Staatsministeriums des Innern für das Amt des Refgierungspräsidenten einen Bewerber auswählen zu dürfen. In beiden Fällen jedoch entbehrten die Forderungen der Bezirkstage jeglicher Rechtsgrundlage. Der Ministerrat faßte den Entschluß, die Ansinnen beider Bezirkstage auf Grundlage der gültigen Bestimmungen der Bezirksordnung zurückzuweisen und eine entsprechende Rechtsbelehrung zu erteilen.

Ein weiterer personalpoliticher Konflikt entbrannte Ende 1955 um den Posten des Direktors des Würzburger Juliusspitals.236 Das Innenministerium hatte die Dienstzeit des seit 1950 amtierenden Direktors Ludwig Diener bis Ende Dezember 1955 verlängert, was zu einem Protest der Diözese Würzburg führte.237 Allein der Stiftungsvorstand des Juliusspitals sei für solche Personalentscheidungen zuständig. Der juristische Grundsatzstreit drehte sich um die Auslegung des Stiftungsgesetzes vom 26. November 1954 beziehungsweise der im Jahre 1953 vom Innenministerium erlassenen Stiftungsverfassung, die in einem rechtlichen Widerspruch zueinander stünden. Die Juliusspital-Stiftung reklamierte weiterhin die personalpolitische Zuständigkeit ihres Stiftungsvorstands, nach Auffassung des Staatsministeriums des Innern dagegen liege die Entscheidungsbefugnis bei wichtigen Personalfragen beim Innenministerium als Aufsichtsbehörde. Anfang Mai 1956 reichte das Oberpflegeamt des Juliusspitals Würzburg beim Bayer. Verwaltungsgerichtshof ein Normenkontrollverfahren gegen den Freistaat Bayern ein, in dem es allerdimgs zu keiner Entscheidung kam. Im Jahre 1958 zog die Stiftung ihre Klage zurück, Direktor Diener verblieb bis Ende September 1958 im Dienst.

Abschließend Erwähnung finden sollen noch einige Münchener Ereignisse – politischer und gesellschaftlicher Art –, die den Ministerrat beschäftigten. Zweimal weilte Bundespräsident Theoror Heuss in München, am 20./21. Januar 1955 anläßlich seiner Teilnahme an einem Treffen der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände,238 am 6. Mai zur Eröffnung der Handwerksmesse in München.239 Vom 6. bis zum 10. März befand sich das persische Kaiserpaar in der Landeshauptstadt.240 Obwohl dieser Besuch als inoffiziell und privat deklariert wurde, sorgte die Staatsregierung für ein feierliches Rahmenprogramm mit einem Staatsbankett. Ebenfalls ein royaler Gast in München war die frühere Königin von Afghanistan, für die die Staatsregierung in Absprache mit dem Auswärtigen Amt Polizeischutz anordnete.241

Ein Großereignis für die bayerische Landeshauptstadt war schließlich die Beisetzung des am 2. August 1955 im 87. Lebensjahr verstorbenen Kronprinzen Rupprecht.242 Am 6. August fand unter Beteiligung der gesamten Staatsregierung ein großes Staatsbegräbnis statt, das nach Auffassung von Ministerpräsident Hoegner „sehr würdig und eindrucksvoll“ verlaufen sei. Allerdings gab es im Nachhinein gewisse Verstimmungen: Der Trauerredner auf dem Staatsbegräbnis, der Abt von St. Bonifaz in München, P. Hugo Lang, hielt am Tag nach der Beisetzung des Kronprinzen am 7. August in Bad Tölz eine Feldpredigt, die nach Auffassung von Wilhelm Hoegner eine monarchistische Propaganda in einem solchen Maße darstellte, daß der Ministerpräsident sich zu einer Replik veranlaßt sah. Regierungsintern war dann auch die Kostenübernahme für das Staatsbegräbnis nicht unstrittig.243

Ein bedeutsamer Schritt für das Münchener Kulturleben war die vom Kultusministerium erfolgreich verhandelte Neubesetzung des Postens des Generalmusikdirektors der Staatsoper. Nachdem die vorherigen Generalmusikdirektoren Georg Solti und Rudolf Kempe im Jahre 1952 bzw. 1954 die Staatsoper wegen Differenzen mit dem Staatsintendanten Rudolf Hartmann vorzeitig verlassen hatten, verhandelte Kultusminister Rucker zunächst mit dem Aachener Generalmusikdirektor Wolfgang Sawallisch, bevor letztendlich dann zum 1. September 1956 der österreichische Dirigent Ferenc Fricsay als Generalmusikdirektor an der Staatsoper verpflichtet wurde.

Am Nachmittag des 5. Juli 1955 wurde München von einem politischen Attentat erschüttert, als im Postamt München 13 in der Münchner Agnesstraße eine an den seit 1950 in München wohnhaften ehemaligen slowakischen Minister Matúš Černák gerichtete Paketbombe detonierte.244 Neben Černák starben bei dem Anschlag, die nie aufgeklärt werden konnte, zwei weitere unbeteiligte Personen, 18 weitere wurden verletzt.

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