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Dokument 2Niederschrift über die gemeinsame Sitzung des Ministerrats mit Vertretern der Stadt Bayreuth, der oberfränkischen Wirtschaftsverbände und der staatlichen Behörden in Bayreuth128. Juni 1955 Beginn: 9 Uhr 30 Ende: 12 Uhr
Anwesend:

Bayerische Staatsregierung, Regierungspräsident Dr. Gebhard, Oberbürgermeister Rollwagen, Bayreuth, Dr. Konrad Pöhner, Präsident der Industrie- und Handelskammer für Oberfranken und Vizepräsident des Bayer. Senats, [Herr] Schmidt,2 Präsident der Industrie- und Handelskammer Coburg, Herr Glenk, Präsident der Handwerkskammer Bayreuth, Herr Hess, Präsident der Handwerkskammer Coburg, Direktor Zürner, Arbeitsamt Bayreuth, Senator Sühler, Präsident des Bauernverbandes Oberfranken, Herr Hüttl, Vorsitzender des Kreisverbands des Deutschen Gewerkschaftsbundes.

Regierungspräsident Dr. Gebhard begrüßt den Herrn Ministerpräsidenten und die übrigen Mitglieder des Kabinetts.

In seinen Ausführungen schildert Regierungspräsident Dr. Gebhard zunächst die Schwierigkeiten, die dadurch entstanden seien, daß infolge der politischen Ereignisse Oberfranken aus einem zentralgelegenen Gebiet zu einem Grenzgebiet geworden sei. Im Gegensatz zu anderen Teilen Bayerns sei jedoch Oberfranken, das einen landwirtschaftlich orientierten Westen und einen industriellen Osten und Nordosten habe, kein unterentwickeltes Gebiet, sondern ein Regierungsbezirk mit besonders starker Industrialisierung. Allerdings sei er durch die Grenzziehung Im Jahre 1945 In eine Marktferne geraten, welche die Wirtschaft schwer belaste. Für das oberfränkische Industriegebiet seien aber natürlich andere Maßnahmen als für die allgemein notleidenden Grenzgebiete geboten. Er bedauere, daß die Bundesmittel für die Grenzlandgebiete deshalb nicht mehr den Wünschen Oberfrankens entsprechend verteilt worden seien. Gerade hier sei der Verteilungsschlüssel, der sich aus Fläche und Bevölkerung errechne, sehr nachteilig.

Er hoffe, daß die Vorstellungen der Regierung von Oberfranken gemeinsam mit denjenigen der Industrie- und Handelskammer Beachtung fänden. Die Regierung sei gezwungen gewesen, ein Nachtragsgramm vorzulegen und bitte dringend, es zu berücksichtigen.

Die oberfränkische Porzellan-Industrie sei im allgemeinen gut beschäftigt, sie habe jedoch auch Sorgen handelspolitischer Art.3 Hier bestehe die Hoffnung, daß die Vorstellungen Oberfrankens von der Bayerischen Staatsregierung beachtet und bei der Bundesregierung durchgesetzt würden.

Was die Frachtrückerstattung betreffe, so sei die Wirtschaft darüber sehr erfreut; allerdings werde es allgemein für notwendig gehalten, das Verfahren, das eine sehr starke Belastung der Verwaltung darstelle, wesentlich zu vereinfachen. Besondere Schwierigkeiten bereite ja die Notwendigkeit, die Verkehrsachse, die früher vorwiegend in Richtung Nord-Süd gegangen sei, auf die jetzige Ost-West Richtung umzustellen.

Er bitte, daß die Staatsregierung auf diese Umstellung bei der Verteilung der Straßenbaumittel Rücksicht nehme. Dabei bestehe natürlich ein großes Interesse, an die geplante Autobahn Frankfurt-Würzburg-Nürnberg Anschluß zu bekommen.4 Was die Linienführung dieser Strecke betreffe, so wünsche Oberfranken, daß die Autobahn etwas nach Norden ausbiege und Oberfranken berühre. Die Kohlenversorgung der ober fränkischen Wirtschaft schließlich sei in hohem Maße davon abhängig, daß der Ausbau der Schiffahrtsstraße Rhein-Main-Donau möglichst bald, wenigstens bis Bamberg, durchgeführt werde.

Auf landwirtschaftlichem Gebiet sei zu sagen, daß die Flurbereinigung in Oberfranken noch weit zurück sei, insbesondere was den östlichen Teil des Regierungsbezirks betreffe.

Hinsichtlich der Lage der Gemeinden dürfe er darauf hinweisen, daß Steuererleichterungen in den Grenzgebieten sicher sehr wertvoll seien, häufig dabei aber auch übersehen werde, daß sie auf die Gemeindefinanzen zurückwirkten. Die Hoffnung auf künftige Steuermehrungen könne die Gemeinden nicht beruhigen, da ja niemand die Entwicklung der wirtschaftlichen Lage in einigen Jahren voraussagen könne. Gerade jetzt bestehe ja bei den Gemeinden, besonders auf dem Gebiet des Schulwesens, der größte Nachholbedarf.

Ähnlich sei es beim sozialen Wohnungsbau, wo zwar seit 1948 50 000 neue Wohnungen, davon die Hälfte mit Staatsbaudarlehen, errichtet worden seien, der Bedarf aber immer noch gegen 100 000 Wohnungen betrage.

Über die Eingliederung der Heimatvertriebenen und den Fortgang des Lastenausgleichs könne er Erfreuliches berichten.

Zum Schluß dürfe er noch erwähnen, daß die Verwaltungsvereinfachung seiner Meinung nach mit dem Abbau der Staatsaufgaben beginnen müsse.

Ministerpräsident Dr. Hoegner dankt für den Vortrag und unterstreicht die Bedeutung der Ministerratssitzungen an den Sitzen der Regierungspräsidenten.

Oberbürgermeister Rollwagen, Bayreuth, gibt daraufhin einen eingehenden Überblick über die wirtschaftliche und finanzielle Lage der Stadt.

Auf den schriftlichen Bericht, der allen Herren Kabinettsmitgliedern ausgehändigt worden ist, darf verwiesen werden.

Anschließend spricht der Präsident der Industrie- und Handelskammer für Oberfranken und Vizepräsident des Bayer. Senats, Dr. Konrad Pöhner, über die Lage der oberfränkischen Wirtschaft.

Auch hier darf auf den schriftlichen Bericht, der in der Sitzung verteilt wurde, Bezug genommen werden.

Der Präsident der Industrie- und Handelskammer Coburg, Schmidt,5 betont, daß die Ausführungen des Herrn Vizepräsidenten Dr. Pöhner im wesentlichen auch auf den Bereich der Industrie- und Handelskammer Coburg zuträfen. Er könne sich deshalb auf einige Bemerkungen beschränken:

Die Beschäftigungslage sei im Coburger Raum in den letzten Monaten sehr günstig geworden, so daß nahezu von einer Vollbeschäftigung gesprochen werden könne. Gewisse Schwierigkeiten träten lediglich von Zeit zu Zeit in der Spielwarenindustrie auf.

Es bestehe jedoch der Wunsch, daß die Kreditaktionen schneller abgewickelt würden. Die steuerlichen Maßnahmen für die Grenzgebiete hätten eine fühlbare Hilfe gebracht, die Maßnahmen müssten aber fortgesetzt werden, da immer noch eine gewisse Gefahr bestehe, daß Betriebe abwanderten. Große Sorge bereitete den Coburger Betrieben die Tatsache, daß die Kohlenversorgung sehr zu wünschen übrig lasse; auf alle Fälle bitte er, die Bayerische Staatsregierung möge bei der Bundesregierung ihren Einfluß dahin geltend machen, daß weiterhin Frachthilfe gewährt werde.

Zum Schluß dürfe er noch darauf hinweisen, daß die Bundesstraße 4 einen Straßenverkehr kaum mehr zulasse und sich in der Tat in einem unhaltbaren Zustand befinde. Er bitte dringend, hier Abhilfe zu schaffen.

Der Präsident der Handwerkskammer Bayreuth, Herr Glenk, gibt zunächst einen Überblick über die Zahl der Handwerksbetriebe Im Bereich der Kammer, die sich auf 21 000 belaufe, darunter 2600 Heimatvertriebene. Größtenteils handle es sich dabei um Mittel- oder Kleinbetriebe, wobei er feststelle, daß fast 8000 selbständige Handwerksbetriebe nicht zur Gewerbesteuer veranlagt würden, weil ihre Jahreseinkünfbe 1300 DM nicht erreichen. Er bitte daraus zu entnehmen, daß es ein ernstes soziales Problem sei, das mittelständische Handwerk zu stärken. Im einzelnen wolle er folgende Maßnahmen vorschlagen:

1. Weitere und noch verstärkte Förderung der Bauwirtschaft in den Grenzgebieten;

2. weitere Intensivierung des Straßenbaues;

3. Vermehrung der öffentlichen Aufträge;

4. Pflege der eigenen Kapitalbildung durch Einführung einer steuerbegünstigten Investitionsgrundlage;

5. Ergänzung der Bestimmungen über den Erlaß der Vermögensabgabe in den Grenzgebieten;

6. Abkehr von den bisher völlig unzulänglichen sogenannten Handwerkskreditprogrammen und Ausbau des Zinszuschußprogramms;

7. Fortsetzung der Maßnahmen zur Steigerung der Wirtschaftskraft in den Grenzgebieten und Anpassung der Verhältnisse der Klein- und Mittelbetriebe, z.B. was die Kohlenfrachthilfe betreffe;

8. Besondere Förderung der typischen Handwerker in Oberfranken, z.B. der Korbmacher, der Holzschnitzer, der Kunstschlosser usw.

9. Ausbau der Gewerbeförderungs- und der Berufsausbildungsmaßnahmen, der Handwerkskammer mit staatlichen Mitteln.

Die handwerkliche Jugend werde zwar auch bei der Industrie unterkommen können, das beeinflußt aber auch das Berufs- und Fachschulwesen des Handwerks höchst nachteilig. Eine Besserung der Verhältnisse könne nur erreicht werden, wenn gute Berufs- und Fachschulen errichtet würden; dafür benötige man aber Mittel, die das oberfränkische Handwerk nicht aufbringen könne.

Der Präsident der Handwerkskammer Coburg, Herr Hess, schildert dann im einzelnen die Lage bei den Coburger Handwerksbetrieben.

Herr Direktor Zürner des Arbeitsamtes Bayreuth führt aus, das Arbeitsamt Bayreuth umfasse Bayreuth Stadt und Land, Kulmbach Stadt und Land, sowie die Landkreise Pegnitz und Stadtsteinach. Der Anteil von Industrie und Handwerk bei den Beschäftigten sei sehr hoch, er belaufe sich auf nahezu 60%, wovon wieder 21% auf die Privatindustrie fielen.

Leider sei es immer noch nicht gelungen, alle Arbeitslosen unterzubringen. Das Arbeitsamt Bayreuth liege heute noch über dem Durchschnitt Bayerns. Jedes Jahr zähle man etwa 7–8 000 Arbeitslose, ein Umstand, der auch strukturell bedingt sei. Infolgedessen müsse das Arbeitsamt Bayreuth besonderes Gewicht auf die Notstandsarbeiten legen, bei denen jährlich rund 1200 Personen beschäftigt würden.

Immerhin sei es erfreulich festzustellen, daß die Zahl der Arbeitslosen am 31. Mai 1955 nur mehr 6900 betragen habe, was den bisher günstigsten Stand darstelle.

Der Präsident des Bauernverbandes Oberfranken, Herr Senator Sühler, unterstreicht nach wie vor große Bedeutung der Landwirtschaft in Oberfranken. Mit besonderer Freude begrüße er es, daß in dam soeben von der Staatsregierung vorgelegten Ergänzungshaushalt die Landwirtschaft stärker bedacht worden sei. In erster Linie denke er dabei an die Beträge für die Bekämpfung der Rindertuberkulose, da die Bundeszuschüsse von einer entsprechenden bayerischen Beteiligung abhingen.

Oberfranken sei vorwiegend ein Land der Klein- und Mittelbauern, der Großgrundbesitz über 100 ha mache nur 1% der gesamten landwirtschaftlich genutzten Fläche aus. Im allgemeinen finde man Betriebe zwischen 28 ha, leider auch zahlreiche Zwergbetriebe. Die Entwicklung der ober fränkischen Landwirtschaft sei sehr günstig. Im Laufe der vergangenen Jahre sei es gelungen, die Erzeugung von 56 auf 120% zu steigern.

Die oberfränkische Landwirtschaft habe volles Vertrauen gerade zum Herrn Ministerpräsidenten, der ein alter aber ewig junger Freund der Natur sei und von jeher großes Verständnis für die Wünsche und Nöte der Bauern gehabt habe.

An den Herrn Staatsminister der Finanzen dürfe er noch folgende Bitte richten:

Die Bundesregierung habe mit Zustimmung des Bundesrats Vorschriften über die Abschreibungsfähigkeit oder Steuerermäßigungen für Aus- und Umbau von Wirtschaftsgebäuden bei buch- und nicht-buchführenden Land- und Forstwirten erlassen. Er höre nun, daß diese Bestimmung des Einkommensteuergesetzes – § 51 –, die zum erstenmal den nichtbuchführenden Landwirten die Möglichkeit der Abschreibungen gebe, wesentlich eingeschränkt werden solle. Er bitte Herrn Staatsminister Zietsch dringend, ein maßgebendes Wort zu sprechen und sich für die kleinen Landwirte einzusetzen.

Der Vorsitzende des Kreisverbandes des Deutschen Gewerkschaftsbundes, Herr Hüttl unterstreicht zunächst die Betreuung der Berufsausbildung und kommt dann auf die Gewerbeaufsichtsämter zu sprechen. Diese entsprächen keineswegs mehr den heutigen Ansprüchen, vor allem seien sie nicht ausreichend besetzt. Nur alle 4–5 Jahre könne ein Außenbeamter einen Betrieb überprüfen. Dabei seien die Gewerbeaufsichtsämter nach wie vor dringend notwendig, da z.B. häufig die Amtszeit ungebührlich ausgedehnt werde, was sich wieder höchst nachteilig auf den Krankenstand in den Betrieben auswirke.

Die Errichtung des Sozialgerichts in Bayreuth werde sehr begrüßt, man dränge aber darauf, eine Kammer für Angestelltenversicherung von Nürnberg nach Bayreuth zu verlegen.

Im sozialen Wohnungsbau sei noch vieles zu tun, besonders was Wohnungen für Minderbemittelte in der Nähe der Arbeitsplätze anlange. Man dürfe aber nicht aus dem Auge lassen, soziale Wohnungen auf dem Lande für land- und forstwirtschaftliche Arbeiter zu errichten.

Während der wirtschaftliehe Aufschwung im Bundesgebiet nach wie vor anhalte, habe man im Bereich des Arbeitsamtes Hof ein Abwandern von Betrieben feststellen müssen mit der Wirkung, daß die Zahl der Beschäftigten um 2,8% zurückgegangen sei.

Gerade in dieser Stadt, die unmittelbar an der Zonengrenze liege, müsse dies – wenn irgendmöglich – verhindert werden.

Zum Schluß habe er die Bitte, daß die Arbeitgebervereinigungen und die Gewerkschaften gemeinsam darauf achten sollten, daß in der Zeit der Produktionssteigerung die Löhne und Gehälter mit dem Preisgefüge gleich bleiben, um die Kauf- und Konsumkraft weiter zu fördern. Damit bleibe das Vertrauen zu Demokratie und Staat erhalten.

Ministerpräsident Dr. Hoegner dankt allen Rednern für ihre Ausführungen und betont, die Bayerische Staatsregierung werde selbstverständlich die Berichte nachprüfen und nach Mitteln und Wegen suchen, um die geschilderten Verhältnisse, wo es notwendig sei, zu verbessern. Für die Staatsregierung sei es höchst wertvoll, an Ort und Stelle Näheres über die wirtschaftliche Struktur eines Gebiets zu erfahren.

Aus den heutigen Darlegungen sei zu entnehmen, daß ein wesentlicher Teil der wirtschaftlichen Schwierigkeiten im Regierungsoezirk Oberfranken auf die unglückliche Teilung Deutschlands zurückgehe. Wenn diese einmal beseitigt werde, könne auch Oberfranken so aufblühen wie andere Gebiete der Bundesrepublik. Alle Teilnehmer der heutigen Sitzung hätten deshalb sicher den Wunsch, daß der Eiserne Vorhang so rasch als möglich fallen möge, damit das gesamte Deutschland der Welt zeigen könne, zu welchen Leistungen es sich nach seiner Wiedervereinigung im Stande sei.

I. Die Niederschrift ist allen beteiligten Ministerien mit dem Ersuchen um Behandlung der angeführten Wünsche und Beschwerden zuzuleiten.

II. Herrn Regierungsdirektor Dr. Kellner

München, den 19. Juli 19556

Der Bayerische Ministerpräsident gez.: Dr. Wilhelm Hoegner